GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT
Schneller, höher, de Maistre
Über das Messen musikalischer Dinge, die zunehmende Schnelllebigkeit unserer Welt, das schönste Harfenkonzert und wie man einen Ohrwurm bekommt.
15. Dezmeber 2023﹒Wien
Unserer Generation kann ja mitunter ein wahrer Zahlen- und Messwahn attestiert werden: Schrittzähler, Bankingapps oder auch die diversen Quartettspiele aus den Kindheitstagen. Hauptsache ein paar bunte Graphen oder vergleichbare Werte die den Alltag und die Umwelt in Zahlen fassen. Man sieht Zahlen gerne als etwas neutrales, objektives: Die Naturwissenschaften als die prägnanteren Lehren im Gegensatz zu den eher diffusen Geisteswissenschaften. Doch am Ende sind auch die verschiedenen Messgrößen nur eine Form der Beschreibung; nicht in Worten, sondern in Zahlen.
Aller Skepsis oder Ablehnung die man dieser quantisierenden Bewegung entgegenhalten möchte oder will zum Trotz, kann man dieses Zahlenjonglieren auch als weitere Perspektive auf einen Sachverhalt verstehen. So zum Beispiel in der Musik. Das Musik und Mathematik nicht weit von einander entfernt sind, ist – so denke ich – ein mittlerweile allgemein anerkanntes Faktum: Bach’s Musik ist durch und durch von numerischer Symmetrie geprägt und in jedem besseren Musik- oder Mathematikmuseum darf der Würfeltisch zum kreieren von vermeintlichen Mozart-Kompositionen nicht fehlen.
Das mathematische Messen kann so auch zum Beschreiben vermeintlich subjektiv-musikalischer Eindrücke genutzt werden. Als allgemeine Erklärung muss ich dennoch anmerken, dass ich persönlich die Musik in ihrem elementaren Erscheinen als etwas nicht messbare sehe. Natürlich können die Datenmodelle von Spotify und anderen Anbietern ein Musikprofil erstellen, dass scheinbar dem eigenen Geschmack nahekommt, aber warum Musik bewegt, etwas in einem auslöst oder nicht gefällt, muss nicht zwangsläufig messbar sein.
Mit dem messbaren Aspekten der Musik durfte ich mich in den vergangenen Wochen an der Universität Wien beschäftigen. Das brachte so viele spannende Eindrücke, dass ich einen davon hier teilen möchte.
Erste Seite der Partitur des Harfenkonzertes.
In einer Analyse habe ich mich mit drei Interpretationen meines Lieblingsharfenkonzertes – das Konzert in Es-Dur, Op. 74 von Reinhold Glière – oder genauer: mit den ersten 83 Takten des dritten Satzes Allegro giocoso dieses Konzertes beschäftigt. Namentlich spielten Suzanna Klintcharova mit dem Sofia Philharmonic Orchestra unter Yordan Dafov in einer Aufnahme vom 11. Mai 1983, die russische Harfenistin Olga Erdeli mit dem Moscow RTV Symphony Orchestra unter Boris Khaikin – veröffentlicht am 09. November 2005 –, und Xavier de Maistre in einer Einspielung vom 16. September 2022 zusammen mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter dem Dirigat Nathalie Stutzmanns.
Als Analysesoftware diente das Open-Source Programm Sonic Visualiser, in dem man vor allem mit diversen Plugins allerhand anstellen kann. Dabei war jedoch eine Schwierigkeit und auch ein Aspekt meiner Analyse, dass die meisten dieser Plugins für Popmusik entwickelt wurden, wo ein eindeutiger Beat der Percussions es rechnerisch einfach macht beispielsweise automatisch das Tempo eine Musikstückes zu bestimmen. Bei klassischer Musik kann das, muss das aber nicht immer der Fall sein; wie sich später auch noch eindrücklich zeigen wird.
In der Analyse habe ich also einerseits versucht einen Blick auf die drei Einspielungen und deren Tempo als Aspekt der freien Interpretation zu werfen. Andererseits wollte ich die verschiedenen Plugins einmal für klassische Musik auf Herz und Nieren prüfen.
Die Graphen 1 bis 3 als Ergebnis der Analysen zeigen den Verlauf der Tempokurven berechnet durch die verschiedenen Plugins sowie als annähernde Referenz eine manuell abgenommene Tempokurve und eine lineare Referenzlinie. Eindeutig zeigen sich allein am Mittelwert der Graphen und den übereinander liegenden Tempokurven die unterschiedlichen Tempi der Interpretationen: Während Erdeli und Klintcharova bei ungefähr 110–120 BPM starten, steigt de Maistre bereits mit über 130 BPM ein. Man könnte auf den ersten Blick also etwas unwissenschaftliche hypothetisieren: umso jünger die Einspielung, desto höher das Tempo der Interpretation.
Jedoch ist im Durchschnitt die Interpretation von Erdeli die langsamste (108 BPM, SD = 12,3) gefolgt von Klintcharova (116 BPM, SD = 10,8). Am – auch hörbar – schnellsten ist die Einspielung von de Maistre (120 BPM, SD = 12,5). Diese Werte beziehen sich nur auf die manuell erstellte Messreihe. SD bezeichnet dabei die Standartabweichung der Tempokurve innert der 83 untersuchten Takte. Die Spielgeschwindigkeit resultiert sichtbar auch in der Spieldauer, wie Graph 4 zeigt: Erdeli benötigt für die 83 Takte rund 88 Sekunden, Klintcharova 84 Sekunden, und de Maistre lediglich 82 Sekunden. Aufgrund der Messungenauigkeiten mit Vorsicht zu genießen ist die lineare Referenzlinie der manuellen Tempokurven: hier könnte gedeutet werden, dass sowohl Klintcharova und de Maistre über die 83 Takte hinweg etwas langsamer werden, Erdeli hingegen etwas schneller.
Bereits im kurzen untersuchten Ausschnitt zeigen sich grundlegende Schwierigkeiten, welche die Beats-Plugins des Sonic Visualisers bei klassischer Musik haben. Die zu Beginn einsetzenden Tremoli der tiefen Streicher mit den rhythmisch markanten und regelmäßigen Vierteln der hohen Streicher sowie die folgenden impulshaften Akkorde der Harfe bereiten den Plugins keine Schwierigkeiten. Problematisch werden die Stellen, an denen die Melodieführung diffus wird: So im Bespiel ab Takt 51 (dolce) – ungefähr durch G1 gekennzeichnet – wo die Melodie erst die wenig impulsiven und eher schwebenden Flöten und Klarinetten übernehmen, während die Harfe in Sechzehzenteln, später in Sechzehntelsechstolen und -septolen sowie Zweiunddreißigsteln arpeggiert. G2 markiert ungefähr Takt 63 ab welchem die Melodie nur noch in den Arpeggios der Harfe liegt und zuerst die Bläser, später die Streicher in gehaltende Akkorde wechseln, sodass eine rhythmisch erkennbare Melodie abseits der Arpeggios fehlt. Ab G3 wird die Harfe solistisch und beschließt die Phrase in Zweiunddreißigsteln mit zwei Glissandi. Augenscheinlich orientierten sich alle Plugins in diesem Part fast ausschließlich an den letzten verbleibenden «messbaren» Implusen: den Harfentönen der arpeggierten Läufe. Hinzu tritt die Schwierigkeit der freieren Interpretation im Solopart, die auch bei der manuellen Tempoabnahme Probleme bereitete, da sie nicht zwingend einen konsistenten Grundschlag über mehrere Takte hinweg hält und man während der Rhythmus-Klicks selber etwas ins Schwimmen geriet. Die größten Abweichungen in diesem und ähnlichen Teilen hatten fast identisch die Plugins Bar and Beat Tracker sowie Tempo and Beat Tracker. Noch am ehesten in der Nähe der manuellen Referenz bewegte sich in allen Beispielen IBT – INSEC Beat Tracker. Es ist zu Vermuten, dass weiteren Einflüsse, wie Aufnahme(-qualität) und vermutlich auch die Spielweise, neben den Aspekten, die wie oben, aus dem Notenbild abgeleitet werden können, also bspw. die Akzentuierung von Einzeltönen, Einfluss auf die Präzession der Plugins haben. So könnten sich mglw. die Unterschiede der Messungenauigkeiten zwischen den drei Aufnahmen erklären lassen: bei de Maistre halten sich bspw. die Abweichungen im abschließenden Solopart vergleichsweise auffällig im Rahmen, was auf die klare und rhythmisch konsistentere Spielweise zurückgeführt werden könnte.
Am Ende dieser Analyse bleibt neben der Erkenntnis, dass Spielgeschwindkeiten, wenn auch nur bedingt, auch in klassischer Musik messbar sind, auch die Erfahrung, dass solche Analysen nachhaltig Ohrwürmer kreieren kann. Denn man hört die Ausschnitte gezwungener Maßen in Dauerschleife zum Erstellen der diversen Tempokurven und bei der anschließenden Messwertkontrolle. Meine große Begeisterung für das Konzert hat diese Dauerschleife in Es-Dur aber nicht geschmälert; eher konnte die Analyse meinen ganz subjektiven Eindruck, dass Erdeli am gefühlvollsten spielt, zumindest teilweise hinsichtlich des Spieltempos bestätigen, während de Maistre einer Musikmaschine gleich durch das Stück braust.