GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Rezension zu «Himmel» von Piia Leino

In Teilen macht sich derzeit eine Zukunftsangst breit in Europa. Aktuelle Geschehnisse verschieben anfängliche Vermutungen immer weiter in Extreme – man fragt sich, wie es wohl weitergehen kann und wird.

Marc Eric Mitzscherling

31. Oktober 2022﹒Erfurt

Die finnische Autorin Piia Leino hat diesen Faden schon 2017 aufgenommen und weitergesponnen. Weitergesponnen zu einer real anmutenden Dystopie. Zu einer Zukunftsvision, die zum Nachdenken – auch über das hier und jetzt – anregt. Zu einem Werk, was 2019 sogar mit dem Literaturpreis der Europäischen Union und dem finnischen HelMet-Literaturpreis (HelMet-kirjallisuuspalkinto) ausgezeichnet wurde und nun dank der Übersetzung von Tanja Küddelsmann auf Deutsch vorliegt.

Der Roman spielt im Helsinki des Jahres 2058. Die Region Uusimaa hat sich als «Wahres Finnland» mit einem Grenzzaun vom restlichen Europa abgekapselt und wird regiert von den nationalistischen Glatzköpfen. Der Großteil der Bevölkerung lebt in Armut, während einige Reiche der grauen, beinahe postapokalyptischen Szenerie in eine perfekte virtuelle Realität entfliehen – dem Himmel.
Hauptprotagonist ist Akseli, ein Forscher an der vormaligen Universität Helsinki, die nun dem Großkonzern gehört, welcher die Hard- und Software für den Himmel vertreibt. Seine Aufgabe ist es, zu ergründen, warum sich durch die vorangegangenen Ereignisse, eine unveränderbar scheinende Lethargie über das Land und die Menschen gelegt hat: Die Leute bleiben in ihren Wohnungen, der Gang nach draußen ist mit größter Angst verbunden, Kinder werden keine mehr geboren. Für seine Forschung bekommt er nicht nur einige Zeit im Himmel zugeteilt, sondern auch ein Medikament, welches versuchsweise gegen die Apathie der Menschen entwickelt wurde.

Mit beidem ändert sich sein Leben radikal. Im Himmel lernt er Iina kennen – eine Frau, die er auch in der Realität treffen möchte. Mit den Tabletten erwachen in Akseli Gefühle und Empfindungen, die sich realer anfühlen, als alles im, bisher als perfekt betrachteten, Himmel. Mit Iina und Akseli finden sich zwei Menschen, die die Möglichkeit haben, die Weichen der Zukunft neu zustellen. Für sich selber; aber auch für die Menschen in Finnland.

Das Buch ist vieles. Eine Anleitung für die Liebe und deren Scheitern. Ein Blick in eine düstere Zukunft und Wege und Mittel solchen Entwicklungen vielleicht schon heute entgegentreten zu können. Eine Science-Fiction Geschichte die im Kleide einer vergangenen Großstadt, ähnlich des Moskaus von Dmitri Gluchowski, in Helsinki spielt. Eine Hymne auf das Schicksal. Ein Abwägen zwischen Vor- und Nachteil von Realität und Virtualität.

Leino treibt derzeitige und vormalige Schreckensszenarien ins Extreme und lässt Finnland zu einem Prototypen eines dystopischen Europas werden, geteilt durch Nationalismus, technischen Fortschritt, Bequemlichkeit und daraus resultierenden sozialen Problemen. Das Buch öffnet mit diesem «Extremismus» aber auch die Augen für das reale, uns aktuell umgebende Zeitgeschehen. Leino trifft damit den Zahn der Zeit – auch wenn die Handlung und die Sprache zum Teil etwas nüchtern erscheinen. Das mindert an einigen Stellen den Lesegenuss; kann aber auch als Stilmittel verstanden werden, das eintönige Grau – diesen Titel trägt auch das erste Kapitel – des Helsinkis im Jahr 2058 in Sprache zu formen.

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Piia Leino: Himmel. Taivas. Aus dem Finnischen von Tanja Küddelsmann. Schenk Verlag 2022. 288 Seiten. 978-3-949045-14-1, 22,90 €.