GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Rezension zu «Das rote Buch der Abschiede» (Punainen erokirja) von Pirkko Saisio

Sowohl das Vorwort des Buches, als auch der Verlagstext sprechen von einer der großen neuen literarischen Entdeckungen – gar von einer Sensation – aus Finnland. Zwanzig Jahre war der letzte Teil der zwischen 1998 und 2003 veröffentlichten autofiktionalen Trilogie der Autorin Pirkko Saisio nur finnischsprachigen Lesern zugänglich. Eine deutsche Übersetzung dieses dritten Teils durch Elina Kritzokat ändert dies nun. Die Antwort auf die Frage, ob das Werk einer Sensation gleichkommt, steht jedoch noch aus.

Marc Eric Mitzscherling

04. November 2023﹒Wien

Das Buch erzählt in einer scheinbar zusammenhängenden und doch immer wieder durch Zeitsprünge unterbrochenen, subjektiv-chronologischen Kette an Erinnerungen und Eindrücken vom Leben der jungen, fiktiven Studentin Pirkko Saisio. Aus der Perspektive eines älteren Ichs wird der Versuch der Rekonstruktion des Vergangenen unternommen. Vergangen; das ist die Selbstfindung in einem kommunistisch angehauchten, akademischen Helsinki der 1960er, 70er und 80er Jahre. Geprägt vom Gefühl anders und doch gleich zu sein. Lesbisch in einem Finnland, dass Homosexualität nicht duldet. Als roter Faden durch dieses «Rote Buch» ziehen sich die Abschiede und Neuanfänge, die die Entwicklung der Hauptprotagonistin zwischen Privatem und Politischem gegenständlich werden lassen.

Saisio zeichnet einen originär anmutenden Blick ins Innere ihres vermeintlichen Selbst. Die zersplitterte Chronologie der Erinnerungen, die sich auch im Textbild widerspiegelt, gereicht dieser erzählerischen Authentizität zum Vorteil, lässt jedoch das Lesen und Nachfühlen an einigen Stellen schwergängig werden.

Was man dem Text lassen muss, ist Saisios meisterhaftes Können adjektivgespickte Szenen vor dem geistigen Auge des Lesers erscheinen zu lassen. Obgleich sich dieses Geschick zum Ende des Buches hin verliert, muss hervorgehoben werden, wie es Elina Kritzokat – wieder einmal – eindrücklich gelingt, das Finnische in poetisches Deutsch zu formen.

Saisio erhielt 2003 für diesen fiktiv nacherzählten dritten Teil ihrer Lebensgeschichte den renommierten und hochdotierten Finlandia-Preis. Es ist bezeichnend, dass sie das Preisgeld von 26.000 Euro an Seta (Seksuaalinen tasavertaisuus), die einflussreichste Organisation für LGBTQ-Rechte in Finnland – spendete. So kann das Buch sicherlich auch als eine exemplarische Dokumentation lesbischen Lebens in Finnland zwischen 1960 und 1980 verstanden werden. Auch sprachlich kann man dem Werk einiges abgewinnen. Sensationen hat die literarische Landschaft Finnlands hingegen schon ganz andere gesehen.

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Saisio, Pirkko: Das rote Buch der Abschiede. Punainen erokirja. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Klett-Cotta 2023. 304 Seiten. 978-3-608-98725-6, 25,00€.