GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

National- und Staatssymbole: Die estnische Flagge

Meistens vergisst man, dass auch die estnische Sprache zu der Gruppe der Finno-Ugrischen bzw. Ostseefinnischen Sprachgruppe gehört. Und auch dieses Land vegetiert oft nur am Rand der Bewusstseinssphäre der Europäer - von Nicht-Europäern ganz zu schweigen. Dabei ist die lange, wechselvolle und auch von Leid geprägte Geschichte äußerst spannend zu studieren. Diese Geschichte findet auch Ausdruck in den zahlreichen Staats- und Nationalsymbolen des Landes, welche nun wieder einmal in Richtung Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden sollen.

Marc Eric Mitzscherling

01. Juni 2020﹒Dresden

Historische Einführung

Für all diejenigen, die die Republik Estland noch gar nicht auf dem Schirm haben oder hatten, zur Einführung noch einmal eine ganz knappe und generelle Zusammenfassung der estnischen Geschichte: diese war vor allem von ausländischen Besatzungs- und Kriegsakteuren geprägt, welche in Estland ihre Kämpfe und Okkupationswünsche auslebten und so das vor allem bäuerlich geprägte Land Langezeit nicht zur Ruhe kommen ließen. Am Anfang steht die sogenannten Vorzeit, die vor allen Dingen heute noch als die glorreichere der vergangenen Zeitabschnitte Estlands betitelt wird. So zerstörten beispielsweise die «Heiden von der Ostsee» - gemeint ist das Volk, was sich heute Esten nennt - 1187 die damalige Schwedische Hauptstadt.

Doch mit der Eroberung Estlands durch die Dänen 1219 beginnt mehr oder weniger das Hin und Her der estnischen Geschichte: erst ist es Teil des Deutschen Ordens (13. bis 16. Jahrhundert) und wird dann 1582 nach dem Livländischen Krieg zwischen Schweden, Dänemark und Polen aufgeteilt. Es folgen weiteren Krieg im Anschluss, bis das Gebiet Estlands dann von 1629 bis 1710 im Ganzen zu Schweden gehört. Dieser Abschnitt geht auch als «die gute Schwedenzeit» in die Geschichtsbücher ein.

Es kommt zu vielen Gesellschaftlichen und Sozialen Weiterentwicklungen, bis dann der große Nordische Krieg (1700 bis 1721) zwischen Schweden und dem Russischen Zarenreich entbrennt. Nach dem Krieg wechselt nicht nur Finnland als Teil Schwedens ins Russische Zarenreich, sondern auch Estland steht nun unter der Herrschaft der russischen Zarenkrone.

Eine interessante Nebenbemerkung an dieser Stelle: aus diversen Akten soll hervorgehen, dass wenn das estnische Gebiet schon 1702 in russischer Hand gewesen wäre, die nach Europa gewandte russische Metropole nicht als heutiges St. Petersburg weiterbestehen würde, sondern eine Stadt auf estnischem Gebiet geworden wäre.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es dann, wie im Rest Europas, zu national gesinnten, gesellschaftlichen Veranlagungen und auch in Estland beginnt eine Nationale Erweckung, welche nach vielen kleinen und größeren Auseinandersetzungen dann in der Trennung vom Russischen (Zaren-)Reich resultiert und 1918 sich dann die erste Republik Estlands manifestiert.

Wer nun glaubt, in Estland sei nun endlich die verdiente Ruhe eingekehrt, der irrt. Mit dem zweiten Weltkrieg wird auch Estland wieder Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen und am Ende des Krieges - in den 1930er und 1940er Jahren - wird das gesamte Baltikum, geographisch gesehen, vom großem sowjetischen Nachbarn okkupiert, um ein Vordringen der Entente von der Ostküste der Ostsee zu unterbinden.

Estland wird wenig später auf Grundlage des Molotow-Ribbentrop-Paktes (Deutsch-Sowjetischer-Nichtangriffs-Pakt) von Deutschland der Sowjetunion zugesprochen und dort verbleibt es dann wenig, eher gar nicht, unabhängig als Sowjetische SSR bis, im Zuge von Glasnost und Peristroika, auch in Estland die Unabhängigkeitsbewegung immer mehr an Bedeutung gewinnt und 1991 die zweite Republik Estland gegründet werden konnte.

Diese Zusammenfassung ist äußerst knapp und hat sehr viele interessante Aspekte ausgelassen; doch für diese Beitrag zu den Nationalsymbolen Estlands soll dies vorerst genügen. Wer nun Interesse gefangen hat, dem empfehle ich das Buch «Gesichte der baltischen Länder» von Norbert Angermann und Karsten Brüggemann, welches im Reclam-Verlag erschienen ist.

Estnische Nationalsymbole

Gerade in Estland sind vielen Bilder und Symbole mit einem hohem Wert an Emotionalität verbunden. Das kommt vermutlich gerade daher, dass Esten immer wieder kontinuierlich ihrer Unabhängigkeit und Freiheit beraubt wurden und Gegenbewegungen an Symolben und Zeichen festhielten. Dies gilt gerade auch für die letzte Zeit der Besetzung durch die UdSSR.

In Estland sind es dem Augenschein nach vor allen solche, die für die Entwicklung eines «Estentums» essentiell waren: dazu zählen die Universität Tartu, aber auch die Natur in ihrer vielen Facetten, wie Wald, Sumpf oder See. Auch die Silhouette der Hauptstadt Tallinn birgt ein Gewissens Maß and Emotion.

Auffällige Accessoires zum Sängerfest «laulupidu» in Tallin. (estonia.ee)

Die Art der Staatssymbole in Estland unterscheidet sich nicht groß von denen anderer Staaten. Nur kann man hier, denke ich, von einer verstärken Nutzung reden. Gerade bei gemeinschaftlichen Großveranstaltung ist die Fahne in blau-schwarz-weiß kein Einzelfall, sondern eher die Regel.

Im Folgenden bin ich einer etwas allgemeineren Einteilung zur Darstellung wichtiger Symbole in Estland nachgegangen. Zu forderst kommen die Staatssymbole im tieferen Sinne. Also all jene, die den Staat offiziell repräsentieren (Flagge, Wappen, Hymne) und von diesem durch Gesetze reglementiert (bspw. Flagge oder Staatsdekorationen) und z.T. auch produziert (Briefmarken, Währungen, etc.) werden.

Zum anderen stelle ich die nationalen Symbole vor. Hier ist vielmehr der emotionale und ideelle Wert von Bedeutung als das «Must-have» für einen funktionierenden Staat. Im Vergleich zu den Staatssymbolen ist hier noch viel mehr die Tradition zu spüren, aus welcher die Symbole entstanden oder auch gewachsen sind.

Die estnische Flagge, Eesti lipp

Die Farben der estnischen Flagge sind blau-schwarz-weiß.

Geschichte

Allgemein gesprochen und für das geistige Auge: die estnische Flagge besteht aus 3 gleich großen horizontalen Balken in blau, schwarz und weiß. Ihre Entstehung ist verglichen mit anderen Ländern sehr gut und nachvollziehbar dokumentiert: mit dem Aufkommen des Nationalbewusstseins in den 1860er Jahren waren auch die Studentenvereinigungen des Landes auf der Suche nach einem einheitlichen und repräsentativen Symbol. Die Studentenvereinigungen kann man sich in etwa, wie das Deutsche Äquivalent zur Zeit der Nationalstaats-Gründung in den 1840er bis 1870er Jahren vorstellen.

Und so wurden die Farben Blau, Schwarz und Weiß - deren Bedeutung wir später noch eingehender untersuchen werden - das Symbol des Vereins Studierender Esten in Otepää. Später und recht schnell verbreitete sich das Symbol und wurde auch im gemeinen Volk genutzt.

Mit der Gründung der ersten estnischen Republik im Jahr 1918 wurden die Farben und die dazugehörige Flagge am 21. November zu den offiziellen Staatsymbolen erklärt.

Unter russischer Besatzung, zwei Jahrzehnte später, wurde die Flagge verboten, doch Esten, die in 1940er Jahren vor den sowjetischen Besatzern ins Ausland - wie nach Schweden, Kanada oder in die Vereinigen Staats von Amerika - ließen es sich nicht nehmen, die Flagge dort weiter zu nutzen und sie so auch zu einem Zeichen der im Ausland lebenden Esten zu etablieren.

Ein interessanter Fakt im Bezug zur sowjetischen Okkupation Estlands ist, dass die Flagge an offiziellen schon Standorten schon am 21. Juni 1940 eingeholt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Estland de facto aber noch unabhängig.

Während der langen Zeit russischer Besatzung entwickelte sich die Flagge immer mehr zum Symbol des Widerstands. Gerade auch, weil ihre Nutzung von offizieller Seite untersagt war.

In der sogenannten Singenden Revolution in den späten 1980er Jahren wurde die Flagge auf Umzügen und Veranstaltungen wird in die Öffentlichkeit gebracht und nach Wiedererlangung der Souveränität und Unabhängigkeit wurde sie erneut zum Nationalen Symbol der neugegründeten zweiten estnischen Republik 1991 erklärt.

Im gleichen Jahr - und das ist eine Besonderheit - wurde auch die originale, sprich erste Flagge, versteckt auf einem Bauernhof in Jõgeva entdeckt und geborgen, wo sie seit 1943 versteckt war. Heute findet man dieses Original im estnischen Nationalmuseum oder zu ganz besonderen Anlässen auch in Gebrauch. Das ein Land eine erste Flagge, ein Original hat, auf welches es sich berufen kann ist nicht nur europaweit eine Besonderheit.

Die «originale» estnische Flagge im estnische Nationalmuseum. (© https://www.erm.ee/)

Nutzung

Heute wird die Flagge jeden Morgen auf dem Pikk Hermann gehisst. Der Pikk Hermann, zu deutsch Langer Hermann, ist ein Turm in Tallinn und bis heute zentrales Symbol estnischer Geschichte und Staatlichkeit.

Auf dem Pikk Hermann in Tallinn weht jeden Tag die estnische Flagge. (Foto von @thejohnnyme auf Unsplash)

Natürlich kommen der Flagge aber auch die gewöhnlichen Aufgaben, wie das Kennzeichnen offizieller Behörden oder Grenzübergängen zu. An Schultagen wird die Flagge auch an den Universitäten und Schule gehisst.

Wie auch hier, gibt es in Estland Flaggentage. Insgesamt sind es 13 an der Zahl, wie am Unabhängigkeitstag (24. Februar), am Tag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit (20. August), am Tag des Sieges (23. Juni) oder auch, wie für viele nordische Länder typisch, an Mittsommer. Interessant ist hier jedoch, dass an diesem Tag beispielsweise in Finnland die Flagge das einzige Mal im Jahr auch über Nacht am Fahnenmast bleiben darf. In Estland ist dies nicht so. Begründet wird dies von offizieller Seite, dass die estnische Flagge über Nacht immer beleuchtet sein muss - und dies kann nicht in jedem Privathaushalt gewährleistet sein.

Die Farbkombination findet nicht nur bei der Flagge Anwendung, sondern ist auch Teil zahlreicher anderes Symbole oder Zeichen, wie bei den Luftstreitkräften oder in den Wappen von Städte und Gemeinden

Interessant ist auch, dass 1918 im der Gründung der ersten Republik mit dem Gedanken gespielt wurde, einen Entwurf im Sinne des Skandinavischen Kreuzes zu etablieren. Dieser Alternativentwurf, der 1919 publizierte wurde, konnte sich jedoch nicht durchsetzten ist aber heute zum Bespiel Zeichen der Gemeinde Vormsi.

Bedeutung

Ein gebiet der Staatssymbole, welches sich immer wieder vieler Kontroversen erfreut, ist die der Bedeutung der Flaggenfarben bzw. deren Wahl. Denn meist möchte man an dieser Stelle doch das mystische oder symbolhafte einer Nation, was man mit der Flagge ja gerade hinaus in die Welt senden will, hervorheben. Nicht anders in Estland. So existiert eine große Anzahl verschiedener Interpretationen, wobei die doch mit zu den beliebtesten gehört:

Andere Ideen sprechen vor allen Dingen im Bezug zur estnischen Geschichte von Ausdauer (blau), Dunkler Vergangenheit (schwarz) und Verpflichtung (weiß).

Die estnische Flagge eindeutig als Abbild der esntischen Winterlandschaft. (Wikimedia)

Mein ganz persönlicher Favorit geht mit dem Abbild der estnischen Winterlandschaft einher: Blau der Himmel, Schwarz der Wald am Horizont und Weiß das schneebedeckte Feld.

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Heute erfreut sich die Flagge insgesamt großer Beliebtheit. Nicht nur zu Sport-Großevents, wie in Deutschland, wird sie rege genutzt, sondern auch zu anderen größeren und kleineren Veranstaltung, wobei das Sängerfest Laulupidu doch wohl am eindrücklichsten ist. Und die Farben dieser doch oft vergessenen Republik finden sich an zahllosen Stellen wieder: sei es der Auftritt des estnischen Außenministeriums zum anwerben von Touristen, oder auch eines der modernen Nationalsymbole: der estnischen Fluggesellschaft Estonian Air.