GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Von einem der auszog, Mämmi zu kochen

Der Eine oder Andere hat von der kuriosen Speise aus dem weiten Norden Finnlands gehört, die traditionell zu Ostern aufgetischt wird: Mämmi. Doch an diesem Koch- und Backwerk scheiden sich sogar die finnischen Geister. Die einen vergöttern den tiefbraunen Pudding, die anderen unterdrücken den Brechreiz schon beim Anblick.

Marc Eric Mitzscherling

10. April 2020﹒Dresden

Meine Mission oder, wie ich es getauft habe: das «Mämmi-Experiment», war es nun, ganz nach dem Grundsatz «Probieren geht über Fennistik studieren», mal selber auszuprobieren, was es mit diesem sagenumwobenen Pudding aus Finnland auf sich hat. Und wann ginge es nicht besser, wenn man durch gewissen Umstände zur Osterzeit nun einiges an Zeit hat. Denn die braucht man für das Gemisch ganz sicher: nicht nur für die vielen Brauanläufe, sondern auch die Stunde Kochzeit und die drei Stunden im Ofen.

Aber bevor wir richtig tief in die Materie einsteigen, vielleicht erst einmal ein paar Worte zum Einstieg. Als Fennistik-Student ist man natürlich nicht um den traditionellen Osterpudding Mämmi vorbeigekommen. Schon im Einführungs-Seminar in die finnische Kultur war dieser Dreh- und Angelpunkt der Sitzung: Gruppe Eins - die Minderheit - hatte es schon probiert und die Mehrheit dieser kleinen Gruppe konstatierte, dass es nicht so der Geschmacksfall war. Gruppe Zwei hatte es bisher noch nicht gekostet, aber schon gesehen und sich daraus ein Urteil erlaubt. Gruppe Drei hatte weder davon gehört, noch eine Geschmacksprobe genommen.
Ich war in diesem Fall Mitglied der Gruppe Zwei. Und mein Urteil war ebenfalls anhand der Bilder entstanden, welche ich von Mämmi schon gesehen hatte. Wer genau die gleichen Bilder, wie ich sehen will, muss nur einmal die finnische Variante von «America first, Finland second» im Netz suchen und wird vielleicht auch mein anfängliches Urteil teilen.

Jedoch war meine letzte Finnlandreise mehr oder weniger der Wendepunkt, was die Vorurteile der finnischen Küche gegenüber anbelangt. So haben nicht nur meine finnischen Bekannten mit einem wunderbaren Abendessen überzeugen können, sondern auch meine eigenen Entdeckungsreisen bei Herkku im Stockmann haben mich meine Meinung ändern lassen. Der letzte Entscheidende Beitrag kam dann in einem Tweet der finnischen Botschaft in Deutschland, die darauf hinwies, man könne sich kein Urteil über das viel diskutierte Mämmi erlauben, habe man es nicht probiert.
Und nun sass ich eines Morgens in der Frühlingssonne und mir wurde gewahr, dass ich die gewonnene Zeit doch nun nützen könne, um endlich einmal Mämmi zu probieren.

Mein fertiges Mämmi vor der Verkostung.

Außerhalb Finnlands ist man ja förmlich zu stundenlangem Kochen verdonnert, denn während in Finnland jährlich zwei Millionen Tonnen industriell gefertigtes Mämmi über die Ladentheken wandert und sich kaum noch ein Haushalt selber an den Herd stellt, wird es außerhalb Finnlands (so gut wie) gar nicht vertrieben.

Eigentlich braucht es für die finnische Osterspeise nicht viel: Malz, Roggenmehl, Wasser, Sirup, Bitterorangen-Schalen und natürlich die obligatorische Priese Salz. Dennoch ist man als Deutscher erst einmal vor den Kopf gestossen: Malz? Gibt es das nicht nur in der Brauerei? Eine Nachfrage in der Bäckerei von nebenan bestätigte meine Verwunderung: «Wir verkaufen ja auch Mehl und; aber Malz? Warten Sie mal kurz ich frag mal den Bäckermeister. […] Nee, also Malz - wüsste auch nicht wo man herbekommt. Also in den nächsten Mühlen ganz bestimmt nicht.»
Der nächste Anlauf war meine Twitter-Bubble, die mich schon auf den richtig Pfad lenken konnte: vermutlich Biogeschäft oder so. Am Ende war Chefkoch mit seiner Rewe-Einkaufslisten-Integration meine Rettung: denn so wurde mir offenbart, dass es Backmalz fast in jedem größeren Lebensmittelmarkt, wie beispielsweise Real oder auch Rewe gibt. Zu meinem Erstaunen, war in meinem Fall dann das Roggenmehl das viel größere Problem. Denn scheinbar gehört dieses Kornerzeugnis neben Toilettenpapier zu den am meisten gehamsterten Produkten dieser Zeit. Überall ausverkauft. Wer hätte das gedacht.

Nach längerer Suche und erst nach dem sechsten Geschäft konnte ich die sage und schreibe letzte Packung Mehl ergattern. Damit waren die Zutaten beisammen - und das fast zu spät.
Denn in Finnland wird Mämmi traditionell am Karfreitag - pitkäperjantai- gegessen, da dieser Tag Langezeit als zu heilig galt, als das man in dieser Hochphase der Fastenzeit eine warme Mahlzeit zu sich nehmen könnte. Laut einschlägigen Quellen im Netz (die ich auf Grund der aktuellen Schließung der meisten Wissenstempel nicht überprüfen konnte) wurde Mämmi erstmals im 17. Jahrhundert im Südöstlichen Teil Finnlands urkundlich erwähnt, aber man geht davon aus, dass es schon lange Zeit vorher eine Speise dieses Landstriches war. Sogar in Schweden finden sich heute noch Landstriche in denen als memma kursiert.

Die Malz-Roggenmehl-Mischung. So schaut eine letzte Packung Mehl aus.

Um die Osterspeise nun herzustellen bedarf es jede Menge Geduld; das Grundprozedere ist jedoch ziemlich simpel und kann in grob vier Phase eingeteilt werden:

Zuerst einen ersten Teil des Malzes und des Roggenmehls in 60 Grad warmen Wasser vermengen und dann eine dicke Schicht des Malz-Mehl-Gemisches auf den nun entstandenen dünnen Brei auftragen und eine Stunde an einem warmen Ort ziehen lassen.
Dieser Prozess des Schicht-Auftragens, eine Stunde Ziehen-Lassens und Wasser Nachgiessens wird nun sooft wiederholt, bis die im Rezept vorgeschriebene Menge an Wasser, Malz und Roggen aufgebraucht ist.

Auch hier täuscht das Aussehen enorm: die blubbernd-braune Masse wirkt eher abstossend als appetitanregend.

Dann geht es in die Phase zwei: Das Mämmi aufkochen lassen und dabei den Sirup zum Süssen und die Orangenschalen sowie das Salz zugeben. Währenddessen das Rühren nicht vergessen und auch beim Kühlen stets weiter rühren.

Ist dies geschafft zündet Stufe drei und der abgekühlte Pudding kommt in eine flache Schale und wird, nachdem er mit einer Schicht Zuckerwasser abgedeckt wird, bei mittlerer Temperatur in den Ofen (ca. 120°C) geschoben, wo er für die nächsten drei Stunden vor sich hin blubbert. Am Ende kommt der aus dem Ofen genommene und mittlerweile ausgekühlte Pudding noch für einen Tag - optimal für zwei oder mehr Tage - in den Kühlschrank bevor er dann in der fünften Phase gegessen werden darf.

Jetzt fragt man sich natürlich, warum dieser große Aufwand um einen simplen Pudding aus Malz und Roggen? Sofern ich mir das erschließen konnte, gewinnt das Mämmi durch diesen langen Zieh- und Backprozess die Süsse, die am Ende zusammen mit der bitteren Note, den Geschmack des braunen Ungetüms ausmacht.

Natürlich kann man sich als blutiger Anfänger das Leben auch schwerer machen, als es schon ist. Das musste auch ich feststellen, als ich auf der verzweifelten Suche nach der Definition für «flache mit kaltem Wasser ausgespülte Schüssel» war, in welche der Pudding nach der Koch- und Abkühlzeit kommt. Erst die Videos von echten Finnen auf YouTube konnten mir weiterhelfen - wobei ich im aller ersten Video erst einmal auf den typisch finnischen Hausmann an seiner kleinen Küchenzeile in - wie sollte es anders sein - Unikko-Marimekko-Schürze Mämmi zubereitet. YouTubes Autoplay führte mich dann immer weiter in das finnische Mämmi-Universum bis ich dann irgendwann bei der wortkargen aber professionellen Mittfünfziger-Finnin landete, die in ihrer Riesen-Küche die braune Kochkunst, wie einstudiert, in einer einzigen Choreographie am Ende fertig aus dem Ofen zauberte.
Auf alle Fälle zeigen die Videos, dass es auch eine Auflaufform oder einfach normale Schüssel in die sonst Obst oder Knabbereien kommen, genügen, um das Mämmi im Ofen zu vollenden. Ebenfalls, ersparte mir der Ausflug in die finnischen home-made Videos ein stundenlanges Rühren bis der Teig abgekühlt wäre: denn packt man en Topf einfach in die Spüle mit kaltem Wasser, ist klar, dass auch der Pudding schneller kalt wird…

Alles in allem war ich von 10 bis 22 Uhr gut beschäftigt, bis dann die dunkle Verheissung dem Ofen entsprang und den entspannenden Tagen im Kühlschranke entgegensteuerte.

Tadaa. Fertig aufgetafelt wirkt es schon irgendwie lecker.

Und heute, am Karfreitag, war es dann soweit. Alles sass skeptisch um die Auflaufform auf der Kaffeetafel herum und musterte die Speise kritisch. Traditionell wird es mit Sahne (ja, ungeschlagen) und Zucker serviert. Es gibt aber auch modernere Interpretationen, wobei Vanille-Eis oder auch warmes Mämmi zum Einsatz kommen.
Doch zu aller Überraschung gehören wir nicht zur Gruppe der Mämmi-Verteufler. Meine Bilanz die ich ziehe, lautet wie folgt: es schmeckt auch ohne Zucker und Sahne erstaunlich süss und hat neben der herzhaft-bitteren Note doch einen weniger erwartet milden Geschmack. Ich kann natürlich noch beurteilen, ob in Finnland hergestelltes Mämmi dann intensiver schmeckt. Am Ende muss ich jedoch - auch zu meinen Erstaunen - feststellen, dass mit Zucker und Sahne die braune Kaltspeise gut schmeckt. Das heisst nicht super lecker und neues Lieblingsgericht, aber gerne wieder einmal. Und da ja auch nur einmal im Jahr Ende der Fastenzeit und Ostern ist, passt das natürlich; abgesehen davon, dass einem das Endprodukt doch recht reichhaltig erscheint - obwohl auch finnische Food-Gurus darauf hinweisen, dass es kaum Kalorien enthält und sogar gesund und zur Klasse Super-Food gehören soll. So ist es reich an Proteinen und Ballaststoffen und offeriert dem Geniesser auch einige Mineralien und Vitamin B.
Wie auch schon andere Portale festhalten: es schmeckt zumeist besser, als es aussieht.

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Nun einmal im Mämmi-Fieber habe ich noch ein bisschen weiter im Netz gesucht, und bin auf eine recht amüsante Werbung einer finnischen Destillerie gestoßen, welche mit Juha Mieto - ehemaligem Ski-Langläufer und scheinbar auch Mämmi-Liebhaber - ihren neuen Sahnelikör anpreist, mit welchem die begehrte Speise zu einem noch größeren Genusserlebnis werden soll. Neben der vermeintlichen Werbung existiert dann noch ein 12-stündiges Video, bei welchem man Juha Mieto dabei zuschauen kann, wie er eine scheinbar endlose Mämmi-Packung leert.

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Meine Schlussfolgerung ist also: nächstes Jahr wieder. Der Mehrheit der Familie hat es geschmeckt und wie ich heute bei einer kurzen Twitter-Recherche festgestellt habe, gibt es noch so viele weitere Möglichkeiten sein Mämmi unters Volk zu bringen: Mämmi-Pizza, Mämmi-Kuchen oder auch Mämmi-Plätzchen. Und ich lege jedem der bisher noch nicht probiert hat ans Herz, es mir gleichzutun. Am besten mit der ganzen Familie. Und vielleicht kommt ja so, eine alte finnische Tradition auch ins mittlere Europa - oder nicht. Es ist und bleibt ja Geschmackssache, aber ich muss ehrlich gesagt, den Hinweise der Finnischen Botschaft unterstreichen zu müssen: ohne Probieren, nichts mit Diskutieren. Denn Mämmi ist wieder einmal eines dieser vielen Beispiele, dass nicht nur das Äußerliche zählen muss.

Am Ende sei noch auf eine kleine Anekdote hingewiesen, welche sich in «The Hitchhiker's Guide to the Galaxy: Earth Edition» findet. So scheint es unter der Truman-Administration zu einem kleinen Zwischenfall gekommen sein: kurz nach dem Zweiten Weltkrieg überprüften Amerikanische Helfer die Lage der Lebensmittelversorgung in verschiedenen Ländern. So auch in Finnland - während der Osterzeit. Die Beobachtungen, die der Amerikaner jedoch machen musste, veranlassten ihn zu folgender telegraphischen Meldung an sein Hauptquartier: «Immediate food aid needed, people up here are eating something that has all ready been eaten once!». Später musste sich jedoch zwangsläufig herausstellen, dass dieses Ostermahl einer finnischen Familie kein Ergebnis aus der Not heraus war, sondern, wie auch ich selbst erleben musste, eine langwierige und aufwändige Prozedur.