GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Marc Eric Mitzscherling

13. September 2022/16. Dezmember 2022﹒Bendern/Erfurt

Im Sommer war ich für ein Praktikum am Liechtenstein-Institut für einige Zeit in Liechtenstein. Eine der ersten Sachen, die mir nach meiner Ankunft im Fürstentum aufgefallen war: Die Kirchenglocken läuteten unaufhörlich. Wem diese Besonderheit nicht am helllichten Tag aufgefallen wäre, dem wäre spätestens – ungewohnt von anderswo – aufgefallen, dass hier auch Nachts alle 15 Minuten die Kirchenglocken schlagen und um sechs, in machen Gemeinden sogar schon um fünf Uhr morgens für mindestens vier Minuten geläutet wird. Wie jemand auch etwas spitz meinte: Wer einen gesunden Schlaf hätte, den würde das bisschen Geklimper nicht stören oder wecken.

Für mich war dieser Umstand ganz praktisch, denn statt eines Weckers, drangen pünktlich um sechs Uhr in Mauren die feinen Glockentöne in meine Träume durch. Und eins muss man sagen: von meinen vorigen Wohnorten ganz anderes gewohnt – dort gingen sogar die Kirchenuhren, also die Zeiger am Turm, vor und nach wie sie wollen – laufen die Uhren und Glocken im Fürstentum fast auf die Sekunde genau.

Liechtenstein wird ja, angefangen mit der Staatsform und endend mit bestimmten Bereichen der Politik und Gesellschaft allgemeinhin eine etwas traditionellere oder konservativeren Einstellung nachgesagt. Was den Glauben, die Religion und die damit verbundenen Traditionen betrifft, kann man diesen Umstand in Land nur unterstreichen. 2015 bekannten sich noch 73% der damaligen Bevölkerung zum Katholizismus und jede der 11 Gemeinden hatte und hat eine eigene Pfarrei.

Um die Bedeutung des Glaubens im Fürstentum zu spüren muss man nicht nur das politische Alltagsgeschäft verfolgen – die Verfassung des Staates führt den katholischen Glauben in Artikel 37 Absatz 2 als Landeskirche auf. Es reicht schon ein Blick in den Feiertagskalender: So ist Mariä Himmelfahrt Nationalfeiertag im Land und seit dem der Papst 1985 an Mariä Geburt dem Fürstentum einen Besuch abstattet auch dieser. Nebenbei muss man anmerken, dass der Liechtensteiner nicht nur Ferien macht: Für Mariä Geburt wurde der Feiertag Mariä Verkündigung um die Osterzeit als gesetzlicher Feiertag abgeschafft.

Aber auch eben die Glocken und deren Geläut zeugen von der tiefen Verwurzelung des Glaubens und dessen Bräuchen in Liechtenstein. Ich erinnere mich noch gut: In meiner Schule hatte es auch einen kleinen Turm mit Zifferblatt und Schlagwerk. Beides war frisch renoviert und einsatzbereit. Eine Zeit lang ertönte auch alle 15 Minuten die entsprechende Anzahl an Schlägen – einmal für viertel, zweimal für halb, dreimal für dreiviertel/viertel vor und vier mal plus die entsprechende Stundenzahl zur vollen Stunde – und ließ so den Unterricht gefühlt schneller vergehen. Dass bis 22 Uhr geläutet wurde, störte die Anwohner. Und ehe man es sich versah, störte die Glocke auch tagsüber mehr als das Geschrei übermütiger Fünft- und Sechsklässer auf dem Fußballplatz. Kurz um: Die Glockenschläge in der Schule vom Schultürmchen blieben noch während der Schulzeit nur ein dunkle Erinnerung.

Immer wieder liest man in den Deutschen und auch Schweizer (Regional-)Medien von Bewohnern, die sich am nächtlichen, aber auch täglichen, Stundengeläut der Kirchen stören. Die sollten mal nach Liechtenstein kommen.

Von links nach rechts: Die Pfarrkirche in Bendern, das Liechtenstein-Institut – das ehemalige Pfarrgebäude bzw. der «Pfarrstall» und ganz rechts versteckt hinter den Bäumen das heutige Pfarrhaus und -amt.

Das Liechtenstein-Institut, wo ich für einige Zeit angestellt war, liegt direkt neben der Kirche der Pfarrei und Gemeinde Bendern. Und dort fällt es einem dann doppelt so stark auf, wenn die Kirchenglocken wummernd um elf Uhr Mittags anfangen zu schlagen und nicht enden wollen, sodass man die gesamt Zeit über unentschieden am Pult sitzt und überlegt, ob die Zeit lohnt, das Fenster zu schließen, um in Ruhe weiterzuarbeiten oder ob es ohnehin gleich wieder leiser wird. Und nicht nur 11 Uhr wird es „laut“. Mittwochs tönen die Glocken Vormittags im Zehnminuten-Takt. Und am Vorabend des 8. Septembers – Mariä Geburt – wollte das volle Geläut aller Glocken der nachbarlichen Pfarrkirche gar nicht mehr aufhören zu läuten.

Grund genug, dass ich mich mit einer E-Mail an die Pfarrei wendete, um mehr zu erfahren. Und siehe da – neben einer sehr netten Rückmeldung von Herrn Burali bekam ich auch die Läutordnung der Pfarrkirche übersendet. Ein kleines Papier, was mich nun zum einen mehr Wissen lässt, als ein Großteil der Liechtensteinischen Bevölkerung und zum anderen so manche meiner „Läutordnungsfragen“ aufklärte. Denn auch wenn Liechtenstein stark katholisch geprägt ist, so konnten mir auch meine Bekannten im Land nicht beantworten, warum die Glocken läuten, wenn sie läuten.

Um die Weihnachtszeit zieht es auch jene Menschen in die Kirchen, die sonst das Jahr über den «heiligen Hallen» fernbleiben. Grund genug an dieser Stelle zu fragen, wie es sich also nun hält mit dem Läuten. Zentral neben dem Stundengeläut sind Glockenschläge um fünf beziehungsweise sechs Uhr – je nach Gemeinde, elf Uhr und acht Uhr abends: Hier wird für rund vier Minuten das Angelusläuten angestimmt. Es soll den frommen Katholiken an Maria und ein Gebet für dieselbe erinnern. Im Alltag werden die drei Uhrzeiten gerne mit dem Morgen-Einläuten, dem Mittagsläuten und dem Abend- bzw. Tages-Ausläuten gleichgesetzt. Am Freitag dauert das Mittagsläuten noch zwei Minuten länger.

Auch das volle Geläut am Abend vor Mariä Geburt lässt sich ganz einfach erklären: Das Zauberwort heißt „Feiertagseinläuten“. Für acht Minuten läuten um 17 Uhr alle Glocken im Land.

Und hinter dem aufeinanderfolgenden Läuten tagsüber verbirgt sich kein geheimes Morsen in den Himmel, sondern – je nach Gemeinde und Pfarrei sowie Pfarrer unterschiedlich – mehr oder minder eine Live-Schalte aus der gerade in der Kirche zelebrierten Messe: Abgesehen davon, dass die Messe Werktags sowohl vier Minuten vorgeläutet – die Leute sollen kommen – und eingeläutet – wie der Gong im Theater, dass die Vorstellung gleich beginnt – werden, kann auch während des Evangeliums und der Kommunion geläutet werden. Gemeindemitglieder die es also nicht in die Kirche geschafft haben, sollen so jeweils an Jesus und das Abendmahl erinnert werden.

Hinzu kommt dann noch eine Fülle an weiteren Anlässen, wie Neujahr, Beerdigungen und dem Sterbeläuten, welches hier im Land ebenfalls noch praktiziert wird. Erst vor ein paar Abenden wurde meine Bekannte nach dem Stundengeläut um acht Uhr hellhörig, als mit einem Ton eine Zeit lang weitergeläutet wurde. Sie blickte andächtig aus dem Fenster und dachte laute in den Raum, ob wohl wieder jemand gestorben war.

Während im restlichen deutschsprachigen Raum – von Bayern und Teilen Österreichs einmal abgesehen – diese Traditionen des Läutens, Fest- und Feiertage ausgenommen, fast gänzlich im Strudel von Abmahnungen und Beschwerden untergegangen ist, Beschweren sich hierzulande zuvorderst die älteren Generationen, dass zu wenig die geläutet würde. Ganz dem Motto «Früher war mehr Lametta» nach. Beispielsweise fehle das, in einigen wenigen Gemeinden Liechtensteins oder auch Kärntens praktizierte, Sturm- und Gewitterläuten: Wenn dunkel Wolken aufzogen wurde und wird geläutet, um nahendes Unheil zu verhindern, aber auch vor drohender Gefahr zu warnen.

So beeinflusst das Läuten noch heute – mehr unbewusst als bewusst – das alltägliche Leben im Fürstentum. Und es ist auch nicht absehbar, dass diese Tradition, wie viele andere Bräuche auch, hier ein Ende finden würde.

Dass das Läuten sogar Teile der Landschaft geprägt haben soll, erzählt auch eine alte Sage aus dem Rheintal – von eben jener Kirche, neben der heute das Liechtenstein-Institut steht: In der Sage «S’Tüfelsloch» übernahm der Teufel die Mäh- und Heuarbeiten eines von der Arbeit ganz und gar geschafften Bauern mit der Abmachung, würde er – der Teufel – die letzten Wiesen bis zum Ave Maria Läuten fertiggestellt haben, bekäme der Teufel des Bauern Seele. Der Teufel machte sich gut und es war abzusehen, dass er seinen Teil der Abmachung würde einhalten können, sodass der Bauer voller Furcht und Scham über seine lebensbeendende Abmachung den Pfarrer in der nahegelegenen Pfarrkirche in Bendern um dringenden Rat ersuchte. Schlau wie der Pfarrer war, ließ er die Glocke früher läuten, sodass der Teufel im Glauben war, es würde bereits Morgen werden. In seiner Wut darüber schleuderte der Teufel einen Teil des Heuwagens – den Wiesbaum – über den Rhein in heutiges Schweizer Felsmassiv. Dort ist bis heute im Berg zwischen Sax und Gams ein Loch – s’Tüfelsloch – und an herbstlichen Abenden, bevor es Winter wird un das Weihnachtsfest sich nähert, fällt durch dieses Loch tatsächlich ein Sonnenstrahl auf Bendern.