GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Große französische Oper in Erfurt — ohne Ecken und Kanten

Das Theater in Erfurt wagt sich an die große französische Oper, wie sie von Gioacchino Rossini mit Le siège de Corinthe 1826 in Paris wiederbelebt wurde. Mit großem Erfolg – auch wenn der Inszenierung insgesamt der besondere Glanz fehlt.

Marc Eric Mitzscherling

28. Januar 2023﹒Erfurt

Mit der Oper Le siège de Corinthe wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die französische Oper aus einer Krise gerettet: Inszenierungen kamen nicht mehr zur Aufführung, das Publikum wurde enttäuscht, Komponisten und Librettisten wanderten ab. Rossini schuf mit seiner ersten französischsprachigen Oper, die mit dem deutschen Titel Die Belagerung von Korinth nun am Theater in Erfurt inszeniert wurde, nicht nur das Mittel zur Rettung einer zentralen Kulturinstitution Frankreichs aus dem Verhängnis und einen wahren Publikumsliebling, sondern schaffte es auch erfolgreich zwischen den damals gewünschten Opermotiven der historischen Authentizität aber gleichzeitig einem Guten Ausgang der Handlung zu lavieren. Zwar stirbt am Ende der Oper alles was sterben kann in grausiger Szenerie, aber diese Klarheit in Verbindung mit dem damals tobenden griechischen Unabhängigkeitskrieg, der sowohl Rossini aber auch dem Publikum als gedankliche Vorlage diente, kam wohl gegen den Wunsch, das Theater zwingend mit guter und beherzter Verfassung verlassen zu müssen, an.

Mit dem Hauptmotiv des Krieges – und dem der Liebe – strotzt Le siège de Corinthe nur so von Anknüpfungspunkten zu der Situation, wie sie heute Schlagzeilen, Diskussionen und Gespräche dominiert. Umso angebrachter – wie auch der begleitende Programmzettel ausführt – dass auf eine direkte symbolische Kopplung zu den Ereignissen um und in der Ukraine bewusst verzichtet wird. Statt einer erneuten Moralkeule, wird es den Zuschauer doch endlich einmal selber überlassen, sich seine Gedanken zum Thema Krieg, Liebe – von Mensch zu Mensch; doch auch zum «Vaterland» – und innerlicher Zerrissenheit zu machen. Gerade auch die moderne Inszenierung wirkt an der Stelle eher unterstützend, als störend, denn im Gegensatz zum Pariser Premierenpublikum 1826 fehlt es dem heutigen Besucher an Verbindungen zu den damaligen Geschehnissen in Griechenland.

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Positiv pointiert werden muss auch die Wahl der Partiturfassung: Die kritische Neuausgabe von Damien Colas erweist nicht nur der Musikwissenschaft Achtung, sondern bietet gleichzeitig dem Zuseher das Werk – rekonstruiert – in seiner vermutlichen Fassung, wie sie Rossini vor all den Veränderungen, Anpassungen und Streichungen komponiert und gewollt haben könnte. So hält man sich auch in der Inszenierung weitestgehend an diese Fassung – und streicht nicht, wie in der noch bis Februar auf dem Spielplan gelisteten Buffo-Oper Offenbachs La Belle Hélène einfach die halbe Ouvertüre weg.

So sehr die Inszenierung begeistert, mitnimmt und auf gutem Niveau darstellt, ist sie doch leider auch durchgehend immer wieder von kleinen Lappalien durchzogen.

Abgesehen von dynamischen Unstimmigkeiten zwischen den Musikern auf der Bühne und jenen im Orchestergraben, wackelnden Holz- und dazu noch dominanten Blechbläsern, die eben jenen Lappalien entsprechen, sind besonders die Streicher des Philharmonischen Orchesters Erfurt hervorzuheben – namentlich die Violoncelli – die akurat und vital mit einem warmen Klang ein stabiles musikalisches Grundgerüst bilden. Obgleich Rossini zwei Harfen für die Oper vorsah und beide Stellen auch in Erfurt besetzt sind, kamen die beiden Harfen während ihrer Hauptpartie kurz vor dem Tod Pamyras – der unglücklich zwischen Liebe und Vaterland zerrissenen Tochter des Anführers der Griechen in Korinth – nur als leichtes Säuseln aus dem Orchestergraben beim Publikum an.

Ganz im Gegensatz zu diesem zurückhaltenden Instrumentarium stand der Opernchor – insbesondere die Herren. Das Publikum lieferte tosenden Beifall für dröhnende Chorpartien. Zu Recht, denn der Chor zeigte so, «was Opernchor kann». Doch wie auch Carl Heinrich Döring – Lehrer am Conservatorium der Musik zu Dresden in der Zeit Rossinis – in seinen Aphorismen vom Felde der Kunst des Gesanges postuliert, erkennt man die Qualität eines Chores gerade an (s)einem bezaubernden Piano. Solche Passagen in gespannt-leisem Pianissimo suchte man aber vergeblich.

Natürlich ist ein solch voller Klang gerade einem Opernfinale nicht abzusprechen, aber ein besondere Effekt wird ja gerade durch eine Abwechslung in der Dynamik erzielt und nicht durch das stringente Übertönen von Orchester und Solisten mit geballter maskuliner Sangeskraft. Die Damenstimmen hingegen waren schon eher ausgeglichen. Ausgeglichen ist an der Stelle ein gutes Stichwort. Denn Orchester und vor allem der Chor mussten sich dynamisch erst noch finden. Mal dröhnte tiefes Blech oder dominantes Schlagwerk, mal übertönte der Chor.

Dieser Klangwucht konnten die Solisten der vier Hauptpartien aber durchaus entgegen halten. Während Brett Sprague, welchem als Néoclès Pamyra zur Frau versprochen wurde, erst in seiner großen Partie im dritten Akt stimmlich aufblühte und zuvor eher verhalten beziehungsweise mit belegter Stimme sang, konnte sich vor allem Luc Robert, als Cléomène – der Vater Pamyras und der Anführer der Griechen, stimmlich voll entfalten. Robert glänzte nicht nur mit einer vollen Stimme, die den Saal bis in die letzten Reihen ausfüllte, sondern auch mit einer verständlichen und artikulierten Aussprache. Das gilt es hervorzuheben: Ist es doch sonst Symptom fremdsprachiger Werke, dass die Gefahr besteht, dass das Libretto in unverständlichen Silbenketten verloren geht.

Der Anführer der Osmanen Mahomet II., in der Aufführung verkörpert durch Arturo Espinsoa, begeisterte mit einem warmen Vibrato. Diesen drei Partien muss man – ganz abstrahiert von der Inszenierung – eine eindrückliche Schauspielerische Leistung zu gute halten. Wobei unter diesem Aspekt nicht nur gesanglich Candela Gotelli als Pamyra hervorgehoben werden muss. Selbstsicher und doch oder gerade dadurch zerrissen. Diesen schwere emotionalen Zustand brachte sie nicht nur musikalisch lebhaft zum Ausdruck, sondern auch durch ihr Handeln und Mimen.

Dass das Theater Erfurt eine große Oper gebührend zur Aufführung bringen wollte, zeigt sich auch am umfangreichen Einsatz der Statisterie. Keine große Oper ohne großes Treiben auf der Bühne. Dies doch auch gerade im Hinblick auf den Kriegsstoff: oft spricht die Kriegsgeschichte von einem «Verlust an Mensch und Material».

Aber diese Ansammlung sehr engagierter Freiwilliger muss natürlich auch sinnvoll in die Inszenierung integriert werden. Im ersten Akt beschränkt sich diese Integration zumeist nur auf das Liegen auf der Vorderbühne. Das ist schade, denn der dritte Akt zeigt im Finale, was eine synchrone Choreographie mit vielen Personen auf der Bühne auszudrücken vermag.

Die Trias von Bühnenbild, Kostümen und Licht reichen sich gewinnbringend die Hand in dieser Inszenierung: besonders der modulare Aufbau verschiedener Gerüstbauten, die an Baugerüste erinnern, welche die Szenerie sinnvoll einfassen. Ein großes Problem hat die Inszenierung aber, denn es ist schade, wenn man den Platz den der Bühnenraum bietet derart verspielt, da das Geschehen lediglich in den zwei Metern zwischen Orchestergraben und der Öffnung zum Bühnenhaus abläuft. Namentlich wenn nicht nur Solisten und Chor, sondern auch die Komparsen die Bühne bevölkern. Im zweiten Akt wird dieser Raum dann nochmals eingeengt, wenn Pamyra ihre innerliches Zerreissen auf dem Meter vorm Eisernen Vorhang darbietet.

Insgesamt gelingt der Konzeption des Bühnenbildes aber ein dramaturgisch besonders spannender Kniff: Anfänglich und vor den emotionalen Wirren der letzten Gefechte sind die Aufbauten klar und straff mit Plasticfolie überspannt, ehe die Osmanen in die Festung der Stadt Korinth eindringen, die Folien zerreißen und zerschneiden; chaotisch liegt das Bühnenbild brach.
Besondere Beachtung gilt der Be- und Ausleuchtung der Bühne. Abgesehen von einigen wenigen Verzögerungen ist das Lichtkonzept fantastisch in das Gesamtgeschehen integriert. Gerade zu Anfang des dritten Aktes, wenn Bühne und Zuschauerraum wieder einmal von Nebel geflutet sind – und von diesem Nebel hat es reichlich während des gesamten Stückes – leuchten im Moment der Ruhe vor dem letzten Sturm die Taschenlampen der verbliebenen Korinther wie bleiche Finger durch den Raum.

Etwas entrückt vom gelungenen Rest der Inszenierung wirken Ouvertüre und Vorspiel zum zweiten Akt. Nicht musikalisch, sondern im Sinne dessen, was auf der Bühne bzw. eher auf den Brandschutzvorhang projiziert zu sehen ist: Die anfänglichen, gefilmten Liebkosungen in Athen zwischen Pamyra und Almanzor, der sich später als inkognito verreister Mahomet II. herausstellen soll, die der Handlung vorgesetzt sind, lassen sich noch verständlich in das Gesamtbild der Aufführung einfügen. Jedoch werden diese in dem mehrere Minuten dauernden Vorspiel zur ersten Szene immer mehr zum Soft Porn mit Teilaktaufnahmen der Hauptdarstellerin. Irgendwann sind es genug Kuss-, Umarmungs- und Ausziehszenen. Gerade Letztere ziehen sich nicht nur filmisch, sondern auch wahrhaftig einem roten Faden gleich durch das Stück.

Noch toller kommt es dann im Zwischenspiel zum zweiten Akt: erneut in schwarz weiß gehaltene Filmaufnahmen. Diesmal von den Darstellerinnen und Darstellern Backstage, in der Maske, beim Bühnenaufbau, und so weiter. Gleichzeitig verschmelzen diese «Making-off»-Aufnahmen irritierend mit den Hauptprotagonisten – oder nur deren Darstellern? – zu einem sich in Dauerschleife wiederholenden Kurzfilm. Nach der dritten Schleife insistiert man schon, achtet nicht mehr auf den Film und viel mehr auf die Musik, ehe sich doch – fast wider erwartend – der Vorhang für eine neue Szene lichtet.

Am Ende bleibt eine fulminante Inszenierung und Aufführung. Leider durchwachsen von kleinere Missgriffen. Daher eben auch eine große Oper ohne Ecken und Kanten. Das spricht einerseits für das Werk und einen Besuch desselben. Andererseits fehlt es aber an Herausragendem, Bewegendem oder Außergewöhnlichem. Die Kleinteiligkeit dieser Ausführungen hier zeigt aber auch, dass es im großen und ganzen ein aber eine sehenswerte Darbietung ist.

Eine Vorstellung die zu keinem Zeitpunkt hätte besser kommen können. Das Stück spricht sich in jedweder Weise gegen den Krieg aus. So war es schon dem damaligen Publikum in Paris präsentiert worden und zuvor mit der als Vorlage dienenden Oper Maometto II. von Rossini intendiert gewesen. Und ebenso kommt es auch auf der Bühne in Erfurt rüber. Fraglich bleibt wofür und wogegen das Stück sprechen möchte: Gegen die sinnfreie Gewalt des Krieges? Sicherlich. Gegen die heroische Vaterlandsliebe, die eine Diplomatie der Liebe zum Scheitern verurteilt? Wer weiß. Zum Glück wird einem in Erfurt das Interpretieren und Überdenken der Motive selber überlassen.

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Premiere «Die Belagerung von Korinth», Samstag, 28. Januar 2023, Großes Haus Theater