GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Finnisch? Kann man lernen!

Eine kleine Geschichte eines recht kuriosen Stückes aus dem Stadtarchiv Dresden: «Meidän Lasten Aapinen» - «Unsere Kinderfibel»

Marc Eric Mitzscherling

05. Oktober 2019﹒Greifswald

Finnland ist ein Land über das viele Vorurteile und Klischees kursieren: es sei immer kalt, die Sprache sei die schwierigste der Welt und die Menschen introvertiert und wortkarg. Soweit man überhaupt etwas über dieses Land zu wissen vermag.

Doch abgesehen von diesen Vorurteilen, mögen sie wahr sein oder nicht, ist weithin bekannt, dass das finnische Bildungssystem eines der besten weltweit ist. Allein 2015 belegte Finnland den 5. Platz der weltweit geführten PISA Studie. Den Anfang nahm diese Entwicklung in der nach und nach etablierten finnischen Bildungsreform vom Ende der 50er Jahre an. Das Archivale des Monats stammt aus dem Jahr 1959 - steht also zeitlich eingeordnet ganz am Anfang der besagten Reform. Hierbei handelt es sich um eine finnischsprachige Kinderfibel («Meidän Lasten Aapinen», zu deutsch. «Unsere Kinderfibel»), die mit das einzige finnischsprachige Werk im Bestand des Archives bzw. dem des Schulmuseums in Dresden, aus dem dieses Buch entnommen wurde, ist und somit allein schon der Herkunft und der Sprache wegen eine Besonderheit darstellt.

Buchdeckel der Finnische Fibel

Die Autoren des Schulbuches, Aukusti Salo und Urho Somerkivi, waren beide maßgeblich an der Reform und Bildung des neuen Schulsystems beteiligt.
Somerkivi, im Jahr 1910 geboren, wirkte zunächst ab 1934 als Lehrer im südkarelischen Lappeenranta, später in Helsinki, wo er 1940 mit einem Philosophiestudium begann. 12 Jahre später wurde er als Lehrer an die pädagogische Hochschule Helsinki berufen und wirkte ab 1958 auch am pädagogischen Institut der Universität Helsinki. Seit 1961 war Urho Somerkivi ein aktives Mitglied der Finnischen Bildungsgesellschaft (Suomen kasvatustieteellisen seuran) und von 1953-1973 Mitglied in der Finnischen Schulgeschichtsgesellschaft (Suomen kouluhistoriallisen seuran).

In den 60er und 70er Jahren führte er erste wichtige Schritte in der Reform bzw. der Bildung eines neuen Konzeptes für Grundschulen in Finnland als Vorstand eines Regierungsausschusses an und veröffentlichte in diesem Rahmen 1970 Vorschläge für "wesentliche Lehrplangrundlagen" (Peruskoulun opetussuunnitelman perusteet) und «Lehrpläne der Grundschulfächer» (Peruskoulun oppiaineiden opetussuunnitelmat), die sich noch heute im Umlauf befinden. In seiner Tätigkeit als Pädagoge veröffentlichte Somerkivi über 40 finnischsprachige Lehrbücher, 40 Lehrmaterialien sowie viele weitere fachpädagogische Werke, weshalb ihm 1986 auch der Warelus-Preis vom finnischen Jounalistenverband verliehen wurde, was den bedeutenden Einfluss Somerkivis auf die finnische Sachliteratur bestätigte. Im Februar 1986 verstarb Somerkivi in der Finnischen Hauptstadt Helsinki in der er fast 5 Jahrzehnte lang gewirkt hatte.
Auch Aukusti Salo, der schon 1887 das Licht der Welt erblickte, wirkte als finnischer Pädagoge, und Dozent für Bildung an der Universität von Helsinki (Helsingin yliopisto) im sogenannten Schulcurriculum der Regierung (Peruskoulun opetussuunnitelmakomitean) mit.

Titelblatt der Fibel mit der Widmung Urho Sommerkivis

Die Fibel ist, wie auch Schulbücher in anderen europäischen Ländern, reich illustriert und beinhaltet beginnend mit dem finnischen Alphabet, Kinderreime, Gedichte, Gebete oder auch Volksmärchen (Kansansatut). Das Somerkivi sich auch für Folklore im eigenen Land einsetzte, erkennt man beispielsweise daran, dass sogar ein Gedicht vom national gefeierten Dichter Johann Ludvig Runeberg enthalten ist.

Die Zeichnungen im Buch stammen auch von zwei finnischen Größen ihres Handwerkes: so wurde das Werk von Rudolf Koivu und Martta Wendelin bunt geschmückt und reich illustriert. Rudolf Koivu, der von 1890 bis 1946 lebte, war schon zeitlebens als finnischer Maler und Illustrator von Kinder- und Märchenbüchern bekannt und noch heute gelten seine Werke als zeitlos. Seine damalige und heutige Popularität spiegelt sich auch in dem nach ihm benannten «Rudolf Koivu Preis» wieder, der in jedem Jahr an junge Illustratoren von Kinderbüchern verliehen wird.

Doppelseite aus der finnischen Kinderfibel mit den Buchstaben E und P. Quelle und Copyright: Stadtarchiv Dresden

Auch Martta Wendelin, die bis 1986 lebte, war eine finnische Malerin, die ihre Bekanntheit vor allen Dingen in den 30er Jahren als Illustratorin für Zeitungscover erlangte, aber auch finnische Kinder- und Märchenbücher gestaltete.

Die Fibel selbst stammt aus dem Bestand des Schulmuseums Dresden, das eine der größten Schulbuch- und Fibelsammlungen in Sachsen beherbergt. Ursprünglich wurde diese Buch von Urho Somerkivi persönlich noch im Jahr des Erscheinens (November 1959) während eines Besuches in Dresden einem gewissen Fritz Lehmann gewidmet und von Ihm signiert.

﹒ ﹒ ﹒

In Finnland haben Fibeln (Aapinet) schon eine sehr lange und für die Sprache selbst sehr bedeutende Geschichte. Die älteste Finnische Fibel ist das von Mikael Agricola, der als Finnischer Reformator und, wie Luther bei uns auch, als Begründer einer einheitlicheren Literatursprache in Finnland gilt, im Jahr 1543 unter dem Titel «Abckiria» veröffentlichte Werk was damit gleichzeitig eines der ältesten Werke in finnischer Sprache überhaupt darstellt. Dieses war jedoch weniger für den schulischen Gebrauch, als vielmehr für die Nutzung durch literarisch bewanderte Priester gedacht.
Schulfibeln, wie sie den heutigen Begriff geprägt haben, lassen sich in Finnland schon im Jahr 1666 ausfindig machen. Bischof Juhana Gezelius veröffentlichte eine 12-seitige Schrift für Kinder, die erste pädagogische Funktionen einer Fibel übernahm. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen auch die Schulfibeln, wie wir sie heute noch zum Teil kennen, in Finnland auf den Markt. Nur zu Kriegszeiten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Finnland prägend waren, waren aufgrund des Fehlens von Druckmaschinen und Material, seltenes Gut. Umso populärer wurde dann die Fibel von Salo und Somerkivi am Ende der 50er, die mehrere Auflagen miterlebte und vermutlich auch des entscheidenden Einflusses von Somerkivi, sofort mit der ersten Auflage «von der Schulbehörde genehmigt» wurde.

Dieser Text wurde im August 2018 für das Stadtarchiv Dresden unter der Rubrik «Archivalien des Monats» verfasst und mit diesem Hintergrund im selben Monat auch in den Dresdner Neuesten Nachrichten publiziert. Das Werk findet sich unter der Signatur 13.48-141/3 im Bestand des Dresdner Stadtarchivs.