GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Finnen, die französische Tränen trinken. Oder: Warum Finnen Plörre schmeckt

So verwirrend dieser Titel klingt, ist doch alles an ihm wahr. Aber auf eine ganz andere Weise, wie Sie möglicherweise vermuten. Ein kulturell-etymologischer Blick auf ein sonderbares Getränk.

Marc Eric Mitzscherling

01. Januar 2023﹒Helsinki/Dresden

Am Anfang war das Wort. Mit dieser alttestamentarischen Maxime arbeitete nicht nur der vor kurzem verstorbene Revolutionär der Werbebranche George Lois, sondern sie kehrt auch beim Sprachenlernen immer wieder. Oder wie es meine Englisch-Lehrerin zu Schulzeiten so pointiert formulierte: «No words, no language»; als es um Sinn und Zweck des Vokabelpaukens ging.

Am Anfang stehen dabei meist zwangsläufig Worte, die zum Grundwortschatz gehören oder solche, die man sich einfach mit seiner Muttersprache herleiten kann. Noch lange bevor ich meine ersten finnischen Vokabeln an der Volkshochschule lernte, stolperte ich in Bernd Giesekings Buch Das kuriose Finnland-Buch regelrecht über das Wort kaffepaussi. Ein Wort was ich auch ohne Finnischkentnisse verstehen konnte. Noch dazu in einem amüsanten Kontext, wenn man an die Busbahnhöfe der finnischen Provinz denkt, wo parkierte Busse gerne anstatt einer ausgeschalteten Außenanzeige eben jenes Wort einblenden. Nach meiner Meinung beschreibt auch kein anderes Wort diesen Pausenzustand besser.

Einer der berühmt-berüchtigten «kaffepaussi»-Busse. Hier aufgenommen in Turku.

Mittlerweile ist das Wort ein alter Schuh, in den sozialen Medien hat man schon mehr als zwei Mal über ein solches Foto geschmunzelt – maximal für die ein oder andere Anekdote bei festgefahrenen Smalltalk-Runden muss das Wort noch herhalten.

Zudem wird einem in Finnland auch recht schnell bewusst, was für eine zentrale Rolle der Kaffee im (alltäglichen) Leben der Finnen spielt. Schon hundert Jahre vor der Unabhängigkeit vom russischen Zarenreich wurde in Turku mit dem damals noch luxuriösen und doch schon begehrten Gut gehandelt; ehe es spätestens nach 1918 aus den vornehmen Salons der Oberschicht auch Eingang in das Leben der Allgemeinheit fand.

Heute stolpert man in Helsinki regelrecht an jeder Straßenecke über ein Coffee-Shop und auf dem Land und in den kleineren Städten haben sich die Lokalitäten, an denen das schwarze Getränk vertrieben und ausgeschenkt wird, schon lange als Dreh- und Angelpunkte des öffentlichen Lebens manifestiert.

Dann stolperte ich vor nicht allzu langer Zeit – mittlerweile schon das Fennistik-Studium abgeschlossen – erneut über einen interessanten finnischen Begriff mit unvermeidbarem Kaffeebezug: plörö. Ich musste mich noch einmal mit einer kurzen Recherche vergewissern, dass dieses Wort tatsächlich existiert und mit wirklich Kaffee zu tun hat.

Kaffee gehört zur finnischen Kultur, wie auch zu meinen obligatorischen Mitbringseln für die Daheimgebliebenen.

Bis anhin kannte ich nur den deutschen Begriff Plörre, der zumeist für schlechten, oder dünnen/wässrigen Kaffee verwendet aber auch für jedes andere schlechte Getränk und Regenwasser verwendet wird. Aktiv nutze ich als Sachse den aus dem Norden Deutschlands stammenden Begriff eher seltener – der terminus technicus in meinen Breitengraden ist wohl eher der Blümchenkaffee – Kaffee der so dünn ist, dass man das geblümte Porzellan der Tasse hindurchscheinen sehen kann.

Zur Entstehung des deutschen Wortes Plörre gibt es zwei Haupttheorien. Einerseits die Vermutung des etymologischen Ursprungs im Niederdeutschen, wo das Verb plören für weinen oder auch verschütten steht. Der Duden weißt aus, dass sich dieses begriffliche Sujet noch heute im Wort pladdern wiederfindet .

Damit in Verbindung steht auch die zweite Herkunftstheorie: Das französische Verb pleurer – zu Deutsch weinen – hätte nach dem zweiten Weltkrieg für den schlechten Kaffee, den es zu dieser Zeit gegeben hat, als neuer Begriff herhalten müssen.

Doch was hat nun das finnische Wort plörö mit alle dem zu tun? Auf den ersten Blick scheint gerade wegen des gleichen Klanges eine etymologische Verbindung zwischen dem niederdeutschen Ursprung und dem heutigen finnischen Wort nicht unwahrscheinlich. Zumal sich besonders während der Hansezeit auch der niederdeutsche Wortschatz im Ostseeraum verbreitete und Grundlage neuer Worte wurde.

Das erst vor kurzem veröffentlichte digitale etymologische Wörterbuch des Zentrums für einheimische Sprachen in Finnland (Kotimaisten kielten keskus, kurz: kotus) kann an dieser Stelle Abhilfe schaffen – und verortet den Ursprung des Wortes im Schwedischen. In den jüngeren Worten plörr/plör oder im noch älteren Wort plurr für – vor allem in Südschweden – Pfützen oder auch Seewasser.

Die weiteren Angaben im etymologischen Wörterbuch und die schwedischen Synonyme für plörrkaffekask, kaffegök – führen uns auf die richtige Spur, wenn es in einem – so wie das Iltalehti 2016 in einer Schlagzeile titelte – Restaurant in Thailand, dass von einem Schweden betrieben wird, ein sogenanntes finnisches Frühstück mit blörö und Zigarre gäbe. Denn hinter diesem Begriff – im Slang auch plöröt, blöröt oder löröt – versteckt sich nichts anderes, als ein Kaffee mit Schuss.

So leuchtet es auch ein, dass der Finne – so er denn das Getränk mag und Lust auf etwas leicht-prozentiges verspürt – beherzt zur «Plörre» greift, während man aus dem deutschsprachigen Raum stammend mit großen Augen zusieht.

Der Artikel aus dem Iltalehti zu dem mysteriösen Finnland Breakfast in Thailand.

Sucht man plörö im finnischen Netz, findet man nicht nur den besagten Iltalehti-Artikel, sondern auf YouTube auch eine illustre Auswahl an hausgemachten Videos zum richtigen Mischungsverhältnis von Alkohol und Kaffee, über eine selbstgedrehte Juhlamokka Werbung mit plörö, bis hin zu einem Filmausschnitt, in welchem ein Taxifahrer, fluchend und schimpfend im Kreise von Kollegen seinen Ärger in einem Becher plörö ertränkt. Wie weit sich diese Szene mit der finnischen Straßenverkehrsordnung vereinbaren lässt, sei einmal dahingestellt.

Interessant ist diese Mischung aus Kaffee und Likör oder Schnaps auch aus kultureller Sicht. Vereint es doch die dem Finnen so oft angedichteten und doch zum Teil wahren Lebenselixiere: Kaffee und Alkohol. Andererseits wiederum stehen beide Getränke sehr konträr zu einander: Wie die finnische Schriftstellerin Kaarina Hazard in einem Essayband zur Neueröffnung der Hauptausstellung des finnischen Nationalmuseums (Kansallismuseo) festhält, sei der Kaffee eigentlich das Gegenbild zum Alkohol. Sie schreibt, dass nicht jedes Geschäft und jeder Arbeitstag mit einem alkoholischen Getränk beschlossen werden müsste, sondern der belebende Kaffee eine viel legitimiere Stellung einnehmen sollte, denn «[very] few have sold their house for a penny or woken up in the wrong bed because of the influence of coffee […].»

Dennoch erscheint dieses alkoholische Mixgetränk nach finnischer Art aus landesfremder Sicht nicht untypisch. Alkohol und Kaffee – finnischer geht es doch eigentlich nicht. Und auch Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.