GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Essay: Estland als Spielstein der Geschichte

Wirft man einen Blick in die Geschichte Estlands und der Region des Baltikums, muss man festellen, dass die Staaten, die sich heute auf dem Gebiet befinden einen langen und steinigen Weg zur Unabhängkeit hatten. Wie gelang es trotzdem den Staaten sich aus dem Geflecht der Abhängkeiten zu lösen und wie wirkten sich die Verhältnisse zu herrschenden Großreichen auf die Kultur aus. Das alles wird exemplarisch an der Geschichte Estlands dargstellt.

Marc Eric Mitzscherling

10. Juli 2020﹒Greifswald

Wie der Name Estland vermuten lässt und allgemeinhin auch bekannt sein sollte, ist die Republik Estland heute eine eigenständige Nation.

Wirft man einen Blick in die Geschichte Estlands, ergibt sich ein anderes Bild. Langezeit gab es diesen Staat gar nicht. In der Frühen Neuzeit sprach man gar von Livland das auf dem Gebiet der heutigen Länder Estland und Lettland lag. Ebenso war das Land über fast 700 Jahre nicht selbstständig: andere Großreiche besetzen die Gebiete und trugen dort auch ihre Kriege und Kämpfe aus.

Das Ganze - die Unfreiheit, die Gebundenheit an andere Staaten - wirkte sich natürlich stark auf die Estnische Gesellschaft aus und ist auch für die Kultur derselben prägend gewesen. Mehr als einmal rangen die Esten um ihre Souveränität von anderen Besatzern und sind bis heute stolz nach mehreren Umbrüchen wieder ein eigenständiger Staat zu sein, der nicht nur im EU-Vergleich in vielerlei Hinsicht ein Vorzeige-Land sein kann.

Diese Umbrüche oder auch Unterbrechungen, von denen die Rede war, finden sich auch in den Gedanken des estnischen Dichters und Essayisten Hasso Krull im Rahmen der sogenannten «Estnischen Theorie» und Estnische Kulturphilosophie wieder.

Er spricht davon, dass die Kultur seines Heimatlandes eine Kultur der positiven und negativen Unterbrechungen sei. Und diese Umbrüche sind - um zum Thema dieser Arbeit zu referieren - zum großen Teil geschichtlicher Natur.

Zu dieser einen Theorie möchte ich noch eine Zweite vorstellen, die im Folgenden auch hilfreich sein wird: Valdur Mikita, ebenfalls estnischer Schriftsteller und Professor der freien Künste an der Universität Tartu, sieht für die Estnische Kultur ein zweites System ausschlaggebend: das der kulturellen Peripherien und des kulturellen Kerns.

Neben dem Kern, der sich in Estland beispielsweise aus Volksdichtung und Mythen bildet, gibt es die Dinge, welche in den Peripherien in Rahmen eines Kulturaustausches mit anderen Ländern und Kulturkreisen, Einfluss auf den Kern nehmen können. Und grade dieser Punkt der Peripherien spielt für die Estnische Geschichte eine entscheidende Rolle.

Denn wie ich im Folgenden darstellen möchte, stand Estland in den oben genannten 700 Jahren Abhängigkeit, im tiefen Einflussbereich anderer Staaten, die das Leben und vor allen Dingen die Kultur des Landes prägten.

Bevor Estland jedoch zu einem sogenannten Spielball der Weltmächte wurde, waren die Esten frei und zeitweise im Ostseeraum sogar als Wikinger gefürchtet. Man geht beispielsweise davon aus, das Ende des 12. Jhdt. Estnische Wikinger als die «Heiden von der Ostsee» die damalige Schwedische Hauptstadt Sigturna zerstörten. Auch wenn man an dieser Stelle darauf aufmerksam machen muss, dass es die Esten als solche damals noch nicht gab, sondern sich diese aus viele kleineren regionalen Gruppen, wie den Bewohnern von Skala, Ugandi oder Virumaa, zusammensetzte.

Dennoch wird seit der Zeit der nationalen Erweckung in Estland gerne auf diese Periode, als die «goldene Zeit» verwiesen, der jedoch die Machtgelüste und Expansionsbestrebungen der christlichen Krieger Europas eine Ende setzten.

An dieser Stelle - Ende des 12. Jhdts. - beginnt die Phase, in der Estland bzw. das Gebiet des heutigen Estlands und dessen Bewohner Untertan von Großmächten waren.

Hasso Krull würde, um auf seine Theorien zu verweisen, an dieser Stelle von einer negativen Unterbrechungen, die sich auf die Estnische Kultur ausgewirkt hat, sprechen.

Den Anfang machte der Deutsche Orden, der auf Geheiß des Papstes 1198 nach Livland zog, um die dortigen Heiden zu christianisieren. Während des Kreuzzuges wurden die Liven und Letten schnell unterworfen. Nur die Esten leisteten unter dem Regionalherrscher Lembitu Widerstand.

Wenig später kam auch der Dänische König Waldemar II. mit seinem Gefolge und seinen Truppen ins Baltikum, um etwas von der Macht im Ostseeraum abzubekommen.

Diese erste Periode ist eigentlich bezeichnend für das Thema dieses Essays: nachdem der Deutsche Orden seinen Machtgelüsten im Ostseeraum nachgegeben hatte, folgten auch andere Staaten, um nicht zu kurz zu kommen. Und an dieser Stelle hatten zumeist die Staaten des Baltikums darunter zu leiden.

Am Ende, um den Faden der Ereignisse wieder aufzunehmen, gelingt es auch den fremden Herrschern die Esten 1227 nach mehreren großen Schlachten zu unterwerfen und gingen dann der zum Teil gewaltvollen Christianisierung und den Zwangstaufen nach.

Estland wurde nun aufgeteilt zwischen der Katholischen Kirchen, dem Schwertbrüderorden und dem Dänischen König.

Etwa hundert Jahre später raufte sich jedoch die unterdrücke Bevölkerung zusammen und rebellierte in den Aufständen von der Georgsnacht wieder gegen die Unterdrücker. Nach einigen blutigen Taten und Schlachten, ist die Region jedoch nicht wieder frei, dafür aber wurde den Dänen der Krieg und die Macht im östliche Ostseeraum zu teuer und sie verkauften ihre Anteile an Livland für 19.000 Mark.

Dieses Ereignis macht wieder einmal mehr deutlich, was aus der einst freien Gesellschaft der Bewohner der Region des heutigen Estlands geworden war: ein Stück Land mit dem man sich für einen gewissen Preis Macht im Ostseeraum sicher konnte.

Aus dieser Zeit ist in der Estnischen Kultur unterschwellig noch einiges geblieben. Neben der großen Fülle an Germanischen und (Nieder-)Deutschen Lehnwörtern (wobei anzumerken ist, dass der Niederdeutsche Lehnwortschatz erst in der Zeit der Hanse vor allen Dingen durch den florierenden Handel nach Estland kam) blieb weit bis ins 19. Jahrhundert auch die gesellschaftliche Struktur erhalten, die so auch die Estnische Kultur prägte: die unterworfenen «Esten» waren zum großen Teil die arme und unterdrücke Landbevölkerung, die meist als Bauern tätig war, während der administrative und sakrale Bereich den Herrschenden von Außerhalb zufiel: deutsch-baltischer Adel als Machthaber und auf Latein missionierende und predigende Kleriker.

Estland bzw. das Baltikum als periphere Gebiete der herrschenden Großmächte wurden in der folgenden Zeit nun im Rahmen von Kriegen und Auseinandersetzungen immer wieder abgestoßen, also wechselte den Besitzer und waren Austragungsort der Konflikte vor dem Wechsel der herrschenden Großmacht.

Nach dem Livländischen Krieg 1558 zerfiel der vom Deutschen Orden geschaffenen «Staat» erneut in Besitztümer der Kriegsgewinner. Hasso Krull würde an dieser Stelle der Theorie nach vermutlich eher von einem - nuanciert betrachtet - positiven Umbruch sprechen.

Erneut wechselt Estland als «Spielball» die Unterdrücker, wobei das Schwedische Reich als neuer «Inhaber des Gebietes» eher vorteilsbringend für die Region war.

Das Schwedische Reich hatte sich zuvor gegen die konkurrierenden Gewinner des Livländischen Krieges durchgesetzt und zuletzt im Schwedisch-Polnischen Fortsetzungskrieges auch die Polen aus dem Gebiet gedrängt. Nun begann die - heute als «gute Schwedenzeit» stilisierte - Herrschaft des Schwedischen Königreiches.

Für die Estnische Bevölkerung - die, wie gesagt, zum Großteil aus der bäuerlichen Landbevölkerung bestand - änderte sich auf den ersten Blick in dieser Zeit nicht allzu viel. Die Herrschaft war vielleicht etwas humaner. So setzten sich die neuen Herrscher gegen den baltisch-deutschen Adel für die Abschaffung des Hauszuchtrechts ein, das jedoch erst viel später, dann schon unter russischer Besatzung, umgesetzt wurde.

Aus heutiger Perspektive kann man jedoch davon sprechen, dass die Schweden das erste Fundament für die später so wichtige Nationale Erweckung und die eigenständige Estnische Kultur gegossen haben: so wurde 1630 ein Gymnasium in der Stadt Tartu gegründet, aus welchem zwei Jahre später die erste Universität des Landes (bzw. damals noch der Region) hervorgehen sollte. Später und bis heute ist die Universität Tartu erst als Schmelztiegel der - für die Estnische Kultur und Unabhängigkeit essentiellen - Literatur, und ab späten 19. Jahrhundert bis heute auch als großer und einflussreicher Wissenschaftsstandort im Ostseeraum, mit einem Wirkungsbereich weit bis nach Russland wichtig.

Ein zweiter wichtiger Punkt der während der Zeit der Schwedische Besatzung eine Rolle spielte, war das vom Schwedischen Königreich ausgebaute Lutherthum in Estland. Denn einer der Majoritätsaspekte des reformierten Glaubens war ja auch die Arbeit mit und im Glauben in der Landessprache.

So entstand in dieser Zeit die erste estnische Fibel und auch die Schriftsprache bildete sich immer weiter vom Nordestnischen Dialekt her aus.

Mit dem Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 verlor Schweden seine topographischen Gebiete Estland und auch Finnland an das Russische Zarenreich.

Nun begann für den Landstrich erneut eine Phase des Umbruchs, die sich auch in Hasso Krulls Theorie wieder abzeichnen würde.

Für das eigentliche Volk wendete sich erneut nichts zum Besseren. Zu Anfang war der neue Herrscher sogar eine zusätzliche Belastung für die bäuerliche Bevölkerung. Denn nachdem schon im Großen Nordischen Krieg ein Großteil der Bevölkerung das Leben lassen musste, zwang der Zar nun zu Rekrutierungen in der Bevölkerung und erschwerte das Leben erneut.

Erst mit dem Beginn Industrialisierung, die sich auch in Estland Mitte des 19. Jahrhunderts langsam bemerkbar machte, lichtete sich das Dunkel der fremden Herrschermacht ein wenig. Nachdem nun schon die Aufklärung die estnische Kultur tief beeinflusst hatte und dazu führte, dass auch der eigenen Sprache wieder mehr Aufmerksamkeit und Pflege zuteil wurde, bekam nun auch die Bevölkerung immer mehr Bildung und die Abschaffung des Hauszuchrechts und der Leibeigenschaft hatten ihr Übriges getan.

Mehr Bildung und aufkommender Wohlstand führten dann also in die schon oft erwähnte Zeit der Nationalen Erweckung. Man besann sich auf das «Estentum» und befeuert von den nationalen Ideen aus Mitteleuropa und Finnland, widmete man sich auch im nordöstlichen europäischen Randgebiet weiter der Idee einer estnischen Gemeinschaft.

Dennoch war Estland in dieser Zeit Teil des Russischen Zarenreiches. Das bekamen die Esten dann auch spätestens ab 1885 zu spüren, als überall im Reich eine Welle der Russifizierung einsetzte. Diese Welle kam aber für die meisten Randstaaten des Russischen Satellitenreiches zu spät: man hatte seine Identität gefunden.

Der Idee eines selbstständigen Staates konnte sich noch weiter ausbauen, als im ersten Weltkrieg gerade wieder die Deutschen ihre Finger nach dem Baltikum ausstrecken und Russland in den ersten revolutionären Wirren versank. Man verteidigte gemeinsam das Land vor fremden Einflüssen und versuchte gleichzeitig westliche Großmächte im Sinne einer Unabhängigwerdung zu erreichen.

Nach einer ausgerufenen Unabhängigkeit und erneut einfallenden Russen 1918 wurde Estland das erste mal in der neueren Geschichte mit dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg 1920 und dem Frieden von Tartu (wieder) ein selbständiger Staat. Bis anhin galt es nur als tauschfähiges Gebiet zwischen konkurrierenden Großmächten.

Um die Geschichte aber fortzuführen genügt ein Blick auf den zweiten Weltkrieg. Denn hier wurde Estland nun erneut von der Sowjetunion als Nachfolger des Russischen Reiches besetzt.

Ein Abkommen zwischen zwei großen Staaten - dem Deutschen Reich und der Sowjetunion - hatte über das Schicksal des Landes entscheiden: im Ribbentrop-Molotow-Pakt regelten Hitler und Stalin unteranderem auch den Umgang mit den baltischen Staaten im Verlauf des Krieges.

Später erklärt Hitler auch den Russen den Krieg und Estland wurde von Deutschen besetzt. Für die Esten erschein dies im Moment mehr als Befreiung, denn zuvor während einer kurzen Phase der Sowjetischen Besetzung 1941 wurde schon ein Großteil der Bevölkerung nach Sibirien deportiert.

Die Deutschen verloren den Krieg und allen Unabhängkeitsbestrebungen der Esten zum Trotz, annektierte die Sowjetunion erneut das Land. Diese Phase dauerte bis zum Zusammenbruch der UdSSR in den 1990er Jahren an, bevor Estland dann wieder 1991 unabhängig wurde.

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In diesen Ausführungen hat sich gezeigt, wie das Gebiet Estlands über 700 Jahre Geschichte hinweg als «Besitztum» zwischen auswärtigen Staaten hin und her geschoben wurde. Es dauerte einige Zeit, bis die erste kurze Unabhängigkeit erlangt werden konnte, bevor diese durch die UdSSR wieder genommen wurde.

Auch lässt sich gut erkennen, das gerade durch Großmächte nachträglich eroberte Gebiete oft nur die Peripherie eines Großen Reiches bilden und gern vom «Kern» einer fremden Nation als Spielstein über das Spielbrett der Mächtigen geschoben wurde.

Kein Frage: Estland und die Estnische Kultur wurden durch diese Phase tiefgreifend geprägt. Um auf den am Anfang erwähnten Kern der Kultur zurückzukommen: Einflüsse aus den Peripheren, wie das Schwedische Luthertum oder auch die Unterdrückung und das daraus resultierenden bäuerliche Leben für den Großteil der Bevölkerung, waren und sind bis heute für die Esten einflussreiche Grundgerüste der Kultur. Es bildete sich eine Estnische Schriftsprache und auch Symbole aus dem bäuerlichen Leben prägten und prägen die Kultur - nichts kann dafür bezeichnender stehen als die Kornblume als Nationalblume.

Weiter zu beobachten ist, dass sich durch diese Wechsel in der Geschichte, in Estland ein fester nationaler Charakter ausbilden konnte. Salopp gesagt, weiß man in Estland woran man ist. In Estland hält man an seinen ursprünglichen Wurzeln, an dem kulturellen Kern, fest, um die Gemeinschaft und Nation zu stärken und gegen neuerliche Einflüsse zu wappnen. Man ist sich gewahr geworden, was für eine hohes und erstrebenswertes Gut die Unabhängigkeit ist - gerade auch um die Traditionen und den Charakter einer Nation, eines Volkes oder auch einer Gemeinschaft zu stärken und zu bewahren.

Das Große und Ganze betrachtend, kann man, bildlich gesprochen, die Vorzeit als status quo nehmen, aus dem die Esten mit der Besetzung durch den Deutschen Orden einen Schritt zurückgedrängt wurden.

Später und über die Zeit hinweg, ging man sukzessive zwei Schritte nach vorne, bildete eine eigene, starke Idee aus, bevor man wieder einen Schritt durch die UdSSR nach der ersten Unabhängigkeit weichen musste.

Am Ende steht der letzte Schritt, heraus aus dem Netz der Abhängigkeiten und der zweiten Unabhängigkeit des Estnischen Staates und der endgültigen Profilierung zu einer kulturell in vielen Zügen einmaligen und starken nationalen Identität.