GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Finnismus - oder: der Weg und die Mittel um nicht mehr genug von Finnland bekommen zu können

Finnland? Hat man schon mal gehört. Wortkarge Menschen, schwere Sprache, kaltes Klima. Deshalb ist es umso unverständlicher, wenn es dann heißt, man würde sich für dieses Land (über das Normalmaß hinaus) interessieren. Wie kann es soweit kommen? Eine Rekonstruktion.

Marc Eric Mitzscherling

29. September 2019﹒Dresden

Man hat die Schule hinter sich gebracht; erfolgreich beendet. Es folgen viele Gespräche und Treffen mit Kurs- und Jahrgangskameraden, Eltern, Lehrern und Interessierten über die Zukunft und das Kommende. Über allem schwebt die große Frage «Was machst Du jetzt so». Ich? Ich bin natürlich präpariert und gewappnet und antworte die ersten Male: «Ich werde Geschichte und Fennistik in Greifswald studieren». Schnell lerne ich dazu — aus den vielen gleichklingenden Antworten: «Ahh! Geschichte und Fin…? Fen…? Was nochmal?». Davon gehört haben die Wenigsten und irgendwann gibt man auf und sagt «Finnische Sprache und alles so mit Finnland». Erklärt sich schon besser, stößt aber auf immer noch auf Unverständnis. Finnland? Finnisch? Wie kann man sich dafür interessieren, geschweige denn das Ganze studieren. «Die Sprache ist doch so schwer, oder?» Sprachlich bewanderte Mensch fragten dann meist noch ganz stolz, zum wissenden Teil gehörend: «Das hat doch was mit Ungarisch zu tun. Irgendwie sind die doch verwandt. Aber lass Dir gesagt sein: Ungarisch ist ja schon schwer…» Auf den Punkt gebracht: Wie konnte es soweit kommen?

Nun ja. Das wurde ich dann auch von den vielen - zum Teil verwunderten - Gesprächsgegenübern gefragt. Und ich fragte mich dann selber. Das ich für Finnland brenne ist ein Fakt. Der Weg dahin jedoch selbst für mich ein Mysterium.

Von meinem Umfeld inspiriert will ich hier versuchen mal ganz kriminologisch den Tatbestand zu sichern und zu rekonstruieren: Wo habe ich mich infiziert?

1. Finnland finden

Mein ersten Kontakt mit Finnland war eine Konzerttournee in einem Ensemble, was damals einen großen Teil meiner Zeit für sich beanspruchte. Schon auf der Busfahrt zum Flughafen war jeder bestens präpariert mit Finnen-Witzen (auch so etwas gibt es - leider zu lange her, um sich an einen entsinnen zu können) und diversen Mythen: die Kirchen seien aus Walknochen und Walhaut gezimmert. Auf gut Deutsch: niemand konnte etwas mit dem Land und den Leuten anfangen, außer sich durch Stereotypen zu kämpfen.
Auf dem Flug folgen weitere Bestätigungen der frühmorgendlichen Busgespräche: Blaubeermuffins. Das Äquivalent zu der Kategorie «Was Essen Finnen Tag ein und Tag aus?» (gleich nach der Walknochenkirche).

Ein Schnappschuss aus Helsinki

Im kalten Norden angekommen war man erst einmal heillos aufgeschmissen: abseits unserer deutschen Sprachsphäre war man scheinbar hoffnungslos verloren. Lentoasema und Katajanokka klangen lustig - anfangen konnte man damit aber auch nichts.
Proben, Busfahrten, ein Hostel, wie es auch in Deutschland stehen könnte und eine Adresse, die wieder Platz fand in der «Liste der lustigen Wörter».

Erst als es in Privatunterkünfte ging, realisierte man langsam, dass hier auch viel Deutsch gesprochen wurde (wenn auch mit kehligem Dialekt - unvergesslich und der Running Geck der Reise, das Finnisch-Deutsche Solo aus Mendelssohns Elias: «Ićh söhö nićhtz. Derrr Himmel ist ååhörrrn übor meinem Houpte.) und man bisher noch keinem Walfänger begegnet war. Die Domkirche hatten wir mittlerweile auch schon gesehen. Ein großer Teiler Gruppe stellte erstaunt fest, dass es sich um einen Steinbau handelte.
Beim gemeinsamen Abendessen konnten ich und meine Kameraden dann mit ein paar schnell antrainierten Floskeln glänzen: Hyvä-ä huomenta, Hyvä-ä ilta, Nuk-ku hyvin. Man könnte konstatieren: mein erster intensiver Sprachkontakt.

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Die Zeit verstrich. Man war begeistert, wie modern viele Dinge waren, das vieles so funktionierte, wie es sollte, neidisch auf die schuleigene Schwimmhalle und enttäuscht, dass herzhafte «Reisgebäcke» auch aussehen konnten, wie köstliche Puddingblätterteigtaschen. Die Meute die sich gerade noch auf das Buffet stürzte, verkrümelte sich ganz schnell. Zur großen Freude unserer finnischen Kollegen.
Angemerkt sei: Heute gehört es zu meinen großen Leidenschaften alle nur auffindbaren Karjalanpirakka zu verkosten.

Beweisfoto, dass die Kirchen wirklich aus Stein sind

Die obligatorischen Sehenswürdigkeiten wurden besucht, aber keiner großen Beachtung zu Teil. Im Privatquartiert wurden nostalgisch anmutende Filme in grau mit stummen Menschen geschaut und Süßes gab es nur von einer Marke: Fazer. Überall: Fazer. Der Aufenthalt gipfelte dann am Ende im ersten Schnee und einem Gastgeschenkpäckchen von den Gasteltern: eine Sibelius CD (die mir noch gute Dienste leisten würde) und: Fazer-Schokolade. Rentier-Geweihe und Preiselbeersaft ware schon besorgt worden.

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Am Ende kann man also schlussfolgernd festhalten: als erste Auslandsreise überhaupt und dann in dieses Land sind mir die Erlebnisse schon in Erinnerung geblieben. Und immerhin hatten meine Sprachkenntnisse den Nutzen, nun bei irgendwelchen Treffen stolz ein paar wacklige Finnische Vokabeln präsentieren zu können. Der Schlager war dann immer, auf Finnisch bis 10 zu zählen und zu bestätigen, dass zwei wirklich kaksi heißt.

2. (Von) Finnland hören und es vergessen

Die Monate plätscherten, was das Finnisch anbelangte, so dahin und die Sibelius CD lief in Dauerschleife. Mittlerweile könnte ich sicherlich die Melodie der Finlandia aus dem Effeff vorträllern. Doch es fanden sich Dinge die wichtiger waren; die Schokolade war auch aufgebraucht und es näherte sich eine Tournee nach Japan. Da konnte sich Finnland also hinten anstellen und schmorte in dunkler Erinnerung.

3. Finnland wiederentdecken

Irgendwann kommt dann der Moment, in dem man etwas über Finnland liest, hört oder sieht. Erinnerungen flackern auf. Man klickt sich durch die Fotos von damals und weiß noch das es irgendwie mit Yksi, kaksi, kolme losging. Und dann beginnen auf einmal die ersten Symptome: Ein Plakat: «Fin…» «Finnland!?» «Finalisierung der Proj…». Man hat diesen Filter und beginnt sich wieder für das Land zu interessieren.

- Kaurismäki?
- Noch nie von gehört!
- Film mit wortkargen Menschen in grauer Kulisse?
- Ich glaube, schon einmal gesehen!

Man beginnt zu realisieren, was man alles erlebt hat und bringt es auf irgendeinem Weg mit Finnland in Verbindung. Und dann folgenden die Bücher. In diesem Falle habe ich alles falsch gemacht, um dem Finnsmus zu entfliehen. Denn wer anfängt irgendein finnland-bezogenes Werk von Bernd Giesking zu lesen, lernt das Land regelrecht lieben. Bei mir war es das kuriose Finnland-Buch. An dieser Stelle kann man diese Passage auch als wärmste Empfehlung kennzeichnen. Man lernt also noch mehr kennen, liest über die schönen und verzaubernden Seiten des Landes und irgendwann steht die Frage, warum man das nicht alles schon vor ein paar Jahren wahrgenommen hat? Man muss ja regelrecht an jedem interessanten Stück planlos vorbeigewatschelt sein.

Es folgen Recherchen, andere Bücher und mit jeder dieser Sekunden wird man empfindlicher für das Silbchen «Fin» oder die Farben weiß und blau in Kombination. Irgendwann kommt dann der Punkt - das Interesse ist mittlerweile ausgereift - dass man sich fragt, was man noch tun könne um Finnland ein Stück näher zu kommen. Anfängliche und utopische Vorschläge von einem Tagesausflug nach Helsinki scheitern einfach an meinem - in diesem Fall - schlechten kartographischen Empfinden für etwas größere Distanzen. Heute weiß ich, dass man mit unter drei Tagen Fährreise nach Helsinki schon gut dabei ist.

Weiter als gedacht: mit dem Auto (und der Fähre) sind es ca. 1500 km

4. Finnland lieben lernen

Und dann: ein Freund lernt Japanisch (ja, nach der Japanreise). Wo? An der Volkshochschule. Zwei, drei Klicks im Netz und man steht vor der Entscheidung — dem glücklichem Umstand, dass es sogar einen Finnischkurs gibt: machen oder nicht-machen? Schule und Ensemble laufen nebenher und es gibt auch noch andere Dinge, die wichtiger wären, als eine Sprache, die auch nur in einem Land gesprochen wird. Man konsultiert Freunde und darf sich anhören, wie sinnlos doch Zeit verschwendet wird, wenn man sie in einem Finnischkurs deponiert. Die Sprache ist schwer; ja, «unlernbar»! Doch wenn mir dann japanische Grammatikregeln erklärt werden, steht mein Entschluss: Anmeldung, Überweisung , Vorfreude.

Das Lehrbuch ist gekauft. Das Vorwort versteht man nicht, sagt sich aber, dass bekommt man alles schon irgendwie hin. Und dann endlich: die erste Stunde. Und: die obligatorische Frage, warum man denn diese Sprache überhaupt lernen will. Auslandsjahr, Partner, Urlaub und Arbeit. Alles nachvollziehbare Gründe. Bei mir steht nur wieder das ominöse «unergründliche Interesse» voran. Man beginnt und freut, sich Minun lempiväri on oranssi sagen zu können. Und wenn man sich dann auch nicht von Akkusativobjekt, Partitiv oder Stufenwechsel (siehe hierzu der Gastkommentar «Finnisch als Weltsprache») abschrecken lässt, ist man auf einem guten Weg, Finnland und vor allen Dingen Finnisch nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Jedenfalls war es bei mir so der Fall. Anfänglich hatte ich noch ein bisschen mit dem Genitiv zu kämpfen, aber irgendwann bekommt man das dann auch hin. Ich möchte nicht sagen perfekt, aber man kommt damit klar.

Natürlich muss nicht mehr erwähnt werden, dass ab dieser Stufe der «Finnischen Entwicklung» auch eine Vielzahl anderer Input-Quellen hinzugezogen werden. Sei es Twitter, YLE (an dieser Stelle sei vor allen Dingen die finnische Nachrichtenschau in leichter Sprache - Selkouutiset - empfohlen) oder die Vielzahl an Büchern, die sich doch noch über die Sprache findet.

Die Filiale des Finnland-Instituts in der Friedrichstraße in Berlin

Zusammengefasst: einmal mit der Sprache intensiver als mit einem abendlichen hyvää yötä in Helsinki in Kontakt gekommen und man wird den Bann nicht mehr los.

5. Finnismus

Ab dieser «Entwicklungsstufe» war es dann bei mir unabsehbar, sich nicht weiter mit diesem Land weiter auseinanderzusetzen. Vor allen Dingen die Neuere Geschichte seit der Gründung der Republik Finnland liest sich in manchen Büchern, besser als ein nordischer Krimi (wenn auch sehr nationalistisch Vorbelastet spiele ich an dieser Stelle auf das antiquarische Buch «Svinhufvud baut Finnland» von Erkki Räikkönen an). Diesem Drang nach allem mit den Silben Finn-, Fin-, Suo-, etc. habe ich dann den liebevollen Neologismus «Finnismus» zugeschrieben. Schon der Duden weis an dieser Stelle, dass ein «-ismus» «kennzeichne[nd] in Bildungen mit Adjektiven [für eine] entsprechende Geisteshaltung oder kulturelle, geistige Richtung» steht. Ich würde sagen: alles richtig gemacht.

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Natürlich kann ich nicht sagen, dass sich diese tiefergehende Beziehung zu Allem Finnischen nicht hopps-di-flopps von heute auf morgen entwickelt hat. Auch möchte ich nicht dafür einstehen, dass solch eine Erscheinung nur mit Finnland in Erscheinung tritt. Sicherlich gibt es auch einen Russismus, Norwegismus oder auch einen Helvetismus; um bei meinem genialen Landverliebtheits-Wortbildungssystem zu bleiben. Und, nicht zu vergessen: man kann auch herbe Rückschläge erhalten. Denken tue ich hier beispielsweise an den so hoch gepriesenen Aki Kaurismäki-Film «Die andere Seite der Hoffnung» (mittlerweile weiß ich mit dem Qualitätsmerkmal «Made by Kaursimäki» umzugehen). Man hetzt noch ins Kino, da der Film schon wieder so gut wie raus aus den Lichtspielhäusern ist und man die Bahn dorthin verpasst hat, löhnt den Heute-ist-Mittwoch-und-nicht-Kino-Dienstag-Preis und darf dann sich anschweigende Menschen in einer manchmal depressiven Stimmung in farblichem Ambiente erleben. Ich möchte damit sagen, trotz der großen Liebe zu dem Land und der Sprache, nehme ich nicht alles hin, was von dort stammt. Es mag sein, dass es auch solche Menschen gibt - ich gehöre dann jedenfalls nicht dazu. Denn, wenn ich es anmerken darf, auch mit Metal-Musik kann man mich jagen.

6. Endstation Fennistik

So bin ich also mehr oder weniger immer mehr in ein finnisches Dasein hingeritten worden. Der Sprachkurs lief weiter - am Ende sogar privat - und als großes Sommererlebnis stand eine erneute Helsinkireise am schimmernde Hoffnungshorizont. Diesmal begegnete man dem Land aber mit ganz anderen Augen. Man war regelrecht froh, nicht mehr in seiner deutschen Reisegruppensprachblase gefangen zu sein, sondern wäre lieber den lieben langen Tag durch die finnisch-sprechenden Menschen in der Stadt geschritten. Auch wenn dazu gesagt werden muss, das der gemeine Helsinkier schon ein feines gespürt für den Touristen hat und deshalb gerne und schnell ins Englische, wenn nicht sogar ins Deutsche switchten. Anstehen an der Kasse, der Preise wird mir mit Finnischer-Slang-Gewalt ins Gesicht gepfeffert; man möchte nachfragen, und schon bekommt man ein «five euros and sixty cents» aufgebrummt. Man kramt länger im Portmonee und bekommt ein weiteres, langsam ungeduldig klingendes, «fünf Euro sechzig» zu hören. Dennoch blieb ich standhaft und versuchte weiterhin die Kommunikation in meiner Sprache der Wahl, bis mir dann auch in Rasantem «Maschinenpistolen-Finnisch» geantwortet wurde und ich mich mehr und mehr zurückhielt.

Finnland ein zweites Mal; mit der ni­gel­na­gel­neuen Oodikirjasto

Doch einmal vom Finnismus infiziert gibt man nicht auf und irgendwann klingelt die Frage nach dem Studienwunsch an die Tür. Man hat viele Vorstellungen und Pläne (ich hatte die zumindest) und dann fragt man sich doch, ob es nicht auch was Finnisches werden könnte. Man stößt auf die «Fennistik», womit wir fast den Kreis zum Anfang dieser Rekonstruktion geschlossen hätten, und entscheidet sich nach ein paar Besuchen der Uni eiskalt (gegenüber all den Advocati Diaboli).

Und nun sitze ich hier. Als aufgeregter Erstsemestler und freue mich auf das, was kommt. Auch wenn ich, selbst mit diesem Artikelchen, nicht ganz ergründen konnte, woher der Finnismus gekommen ist.
Am Ende kann man diesen Artikel also als eine Art Anleitung sehen, um sich ebenfalls für dieses unbekannte und stark vorurteilbelastete Land zu begeistern. Vielleicht komme ich noch einmal dazu, all meine Inputquellen offenzulegen. Denn mit Räikkönen und Giesking ist das noch lange nicht getan.