GALANTERIE & VERFLOSSENHEIT

Bilder ein Ankunft

Die letzte Zeit war bestimmt durch viele Eindrücke jeglicher Art. Doch bedeutende Beobachtungen gab es auch auf dem Feld der Alltagskomik. Folgende Teile sollen das Beobachte versuchen vor dem geistigen Auge visuell aufzuspannen - wie poetisch das klingt...

Marc Eric Mitzscherling

12. September 2019﹒Unterwegs

Die Beobachtung beginnen an einem Bahnhof einer nordisch-deutschen Stadt auf den Bus wartend. Mein Ziel ist ein Ortsteil, in dem sich Gangster-Rap und brennende Autos erfolgreich ins Stadtbild integriert haben - soweit ich dem Gehörten Glauben schenken will. Wenigstens den Musikgeschmack kann ich mittlerweile bestätigen. Auf das brennende Gefährt warte ich noch jeden Abend gespannt am Fenster.

Bevor wir in die Schilderungen voll und ganz einsteigen können, müssen noch die Protagonisten (wobei die Namen selbstverständlich erdacht sind) dieser Tragikkomödie aufgeführt werden:

Gertraut, 76-jährige Rentnerin
Margot, 69-jährige Rentnerin und Großmutter
Andrea, 40-jährige Frau
Jennifer, 29-jährige Mutter, mit Patrik liiert
Patrik, 32-jähriger Vater, mit Jennifer liiert
Lukas, 5-jähriger Sohn von Jennifer und Patrik

Szenerie: Bahnhof. Sonnenschein, aber um die 15 Grad. Gertraut wartet mit dem Feiertagseinkauf und fescher und trendier Hip-Bommelmütze in Neongrün auf den Bus. Auch dabei sind Jennifer, Patrik und ihr herumtollender Sohn Lukas. Regen war eigentlich für den Tag prophezeit. Darum ist Lukas auch vorberiet mit dem Cars-Regenschirm ausgerüstet. Doch auch dieser vermag nicht die Langweile vertreiben, bis der Bus endlich kommt. Die Eltern sind sowieso nur wieder mit dem Kopf im Smartphone.
Vielleicht hilft der Schirm ja doch etwas. Wusch. Bekommt die Mutti halt eins übergebraten. Die Beschäftigung ist da. Und mit ihr auch das Geschrei und so gute Diente der Schirm auch geleistet hat, jetzt ist er weg. Eingezogen von der Achse bösen Mutti. «Patrick sach doch mal wat!» Tief raunt irgendwas über das Smartphone hinweg. «Iich brauch den Schiieerm wieder! Maamaa!» «Nee, die Muddi wird nich geschlagen!» Stille. Smartphone.
Zack! Der Schirm ist wieder in den Händen des Übeltäters. Immerhin ist das Kind endlich wieder still. Der ganze Bahnhof hat sich ja schon umgeschaut. Gertraut schaut immernoch. Was für eine Darbietung - was für ein Schauspiel. Unglaublich und Gesprächsstoff für die nächsten Tage. Und der Bus? Braucht noch zwei Minuten. Zwei Minuten zu viel für ein Langeweile aufgeheizte Familiensituation. Diesmal hat es den Vater erwischt: «Duuu! Gibt du mir jetzt sofort! Den! Schrirm!» Als Antwort kommt kein Schirm, dafür ein Schlag des Selben und ein entsetzt-weinerliches «Neeein! Das! Ist! Mein Schirm! Maina!» Dem Vater wird es zu bunt. Das Kind zwei mal durch die Luft geschleudert, sich an den Schirm krallend. Dann liegt Lukas auf dem Boden. Ohne Schirm.
Jennifer: «Du entschuldigst dich jetzt bei Papi. Sonst fahren wir alleine nach Hause.» «Nain! Main Sirm!»

Getraut schaut immer noch zu. Der Kopf beginnt eine leichte Halbrotation nach links und dann wieder nach recht einzustellen. Auf ihrer Stirn scheint man zu ‹So was gibt es doch nich, ne!?›

Nach einigen Sekunden der Empörung kann Lukas in einem gewieften Streich die Schirm zurückerobern und sieht wenig später seine Tat ein. In einer emotionale 570°-Wendung wird Papa angeschmust und Mama links liegen gelassen.

Der Bus kommt. Ich löse mich von meinen Beobachtungen und lasse der älteren Dame mit grüner Bommelmütze gebührend den Vortritt in den Bus.
Sie dreht sich zu mir, der ich ja der einzige andere Zuschauer des Kammerspiels war: «Na, die hätte niemals Kinder griechen dürfen, ne. Also so was». Kopfrotierend wendet sie sich dem charmanten Busfahrer zu und überzeugt Ihn mit einem zackigen Spruch (und einer Monatskarte) von einer Mitfahrt. Glücklicherweise ist noch der Platz im Kinderwagenabteil frei. Der anfahrende Bus unterstützt die Operation «Sitz-Okkupation».

Rums. Sie sitzt. Kind und Eltern suchen sich andere Plätze und dort bleibt es erstaunlich ruhig.

Nun rückt Gertraut selbst in den Fokus. Beziehungsweise ihr Fokus richtet sich auf die Gesellschaft gegenüber «Ist das der neue Rollator, ne?» Ihr Blick ruht auf einem für die Geschichte nicht benannten älteren Ehepaar, nebst einem brand neuen Rollator in der Trendfarbe grau. Ich bin kein Spezialist in dieser Branche und kann somit weder Modell noch Alter des Geräts nennen. Zur Vorstellung genügt das Bild eines ganz normalen Rollators. Aber Getraut hat da vermutlich das bessere Auge für, denn der ältere Herr, der sich scheinbar auch der Besitzer des Gefährts nennen darf, antwortet schwer redlich bemüht: «Åååånnn gåååånss noooieer Rohlaaador!» «Joá, so nen Modell habsch auch noch nicht gesehen, ne?» Seine Ehefrau übernimmt engagiert das Ruder der frischen Konversation: «Ja, ja. Ein ganz neuer Rollator. Erst vor ein paar Monaten gekauft» «Ne, das hat ich mir jetzt auch fast gedacht. So ein hab ich noch nicht gesehen» geht Gertraut auf die Bestätigung ein (ich weiß bisher immer noch nicht, an welchem Detail man die Modernität des Geräts ausmachen konnte). Die ältere Frau steigt fährt gleich fort. Aus dem dann Folgenden hört man fast genau den Wortlaut des sicherlich sehr strebsamen Vertreters der den Verkauf abwickelte «[...] und dann gibt es den auch noch in den färben Türkis, Schwarz, Bordeaux, und Grau. Aber wie gesagt ganz neu. Ham wir erst vor ein paar Monaten gekauft.» Ihr Ehemann bestätigt: «Åååånnn gåååånss noooieer Rohlaaador!»
Unserer Getraut reichen die Information aber noch lange nicht. Denn jetzt kommt erst der entscheidende Part. Denn während man heute über Handy-Verträge, MBs und Arbeitsspeicher debattiert, gibt es auch bei den älteren Genrationen ebenso entscheidende Themen: die Krankenkasse. «Na, wie war’n das dann mit dem Kauf? Sicherlich mit Zuzahlung, ne? Weil das ist ja ein ganz moderner. Den hab ich auch so noch nicht gesehen, ne.» Die ältere Dame, froh es mit einem Profi zu tun zu haben, erläutert gleich die Zahlungslage und ja, es war mit Zuzahlung. Also Gertraud findet findet die Dinger ja auch echt praktisch. «Also ich brauch’n zwar nich, aber so für’n Einkauf mit’n ganzen Beuteln is das dann schonn schöön. Aber heut’ war ich beim Arzt, da ging das nich, so. Ja», lacht, «jetzt sitzt ich hier mit meinen Beuteln».

Das ältere Ehepaar muss den Bus schon verlassen und Gertraut wird von den Ängsten der kommenden Stille erfasst. Halt! Margot steigt zum Glück zu. Hach. Was für ein großes Hallo. Es wird sich, wie jeden Tag, ausgetauscht, bis zu welcher Haltestelle man fährt und natürlich: Warum. Die eine hat rutschigen Granit. Bei der anderen ist die Stufe zu groß. Und so bleiben am Ende nur einige wenige Möglichkeiten. Und dann noch die ganzen Tüten. Margot lässt sich jedoch nicht so schnell von Gertrauts Weltschmerz erfassen und steigt gewagt gleich wieder an der nächsten Haltestelle aus (die mit der so tiefen Bordsteinkante). Gertraut mustert die Meisterleistung gebannt - wartet aber doch lieber noch ein paart Haltestellen ab. Denn sonst die Tagesbeschäftigung wieder viel zu schnell rüber.

Doch mit dem Abzug von Margot kommt der Aufzug unserer Andrea. Andrea ist nicht gerne mit mehreren Menschen unterwegs. Und schon gar nicht im Bus. Sie weiß ja noch nichts von dem Glück, genau neben Lukas zu stehen, der sich mittlerweile einen Einzelplatz neben dem Busfahrer gesichert hat.
Erst als aus dem anderen Ende des Busses ein «Lukas denk dran, die nächste steig’ng wir aus» in ihre schallt, wird ihre das prekäre Potential der Situation bewusst. Lukas ist nun durch mütterlichen Befehl schon wesentlich aufgedrehter. Der Schirm schwingt — zum Glück der ganzen Belegschaft, wenn auch nur knapp, an Andrea vorbei. Der Gang ist aber so ungünstig verstellt, dass kein anderer Platz als der neben unserem hyperaktiven Lukas frei ist. Und dann bekommt der Bus auch noch ein unabwendbare rot.

Man bekommt zu spüren, dass auch Andrea langsam rot sieht. Dabei ist bisher noch nichts passiert. Krankenwagen passieren die Kreuzung und aus Richtung Lukas kreischt ein «Muuuddi. Da ist UUUUUUUROOOOOPAAAAA! UUUUROOOOPAAAAA!» durch den Bus. Statt das Kind wieder zu beruhige kommt ein «Na isch seh das von hier hinden nisch, Kindschen» Jennifer sieht sich um und entdeckt eine Tagespflege die auf der Spur nebenan wartet. «Lukas. Na gugge mal da drüben. Die fahrn immer zum Uropa» Nun ist das Kind - und auch der Bus - vollends verwirrt und aufgedreht. «Neee Muddi. Daaaaa! Daaa ist Uropa!»

Der Bus fährt an. Die Lage beruhigt sich, nur Andrea nicht. Haltestelle. Der Bus senkt sich ab. Andrea flüchtet zum Ausgang. Doch Jennifer ist fast genauso schnell und Lukas ist sowieso überall dabei. «Ne, wolln se nich mal die Kinder vorlasse, hä!?» «Na also! aal...» Andrea ist sichtlich überwältigt von solcher Anrede. Also drei quetschen sich zur gleichen Sekunde aus den überbreiten Türen. Und das bringt die endgültige Eskalation. Mit Hochrotem Kopf kreischen sich die beiden Frauen an. Die ganze Stadt hört zu: «Bringen sie doch erst ihr Kind unter Kontrolle!» Getraut nickt. «Was erlauben sie sisch denn!?!?!? Na Sie ham Sie doch nich mehr alle. Ihre blöde Art!»

Mit einem Mal scheint aller Ärger hinfort und beide gehen ihren Weges. Doch der Eindruck täuscht. Auf halben Wege drehen sich beide wie choreographiert um und schreien sich weiterhin unschöne Dinge hinterher. Das beliebt jedoch dem mobilen Bus-Publikum erspart, denn der Rest der aus ‹Verklag mich doch› adaptierten Szene geht im Zischen der Bustüren unter.

Vorhang runter. Applausmusik übernimmt der aus dem Auto auf der Zweitspur schallende Gangster-Rap. Auch ich bin am Ziel.

Getraut wird noch zur ergonomisch am besten passenden Haltestelle fahren und dann zu Margots Haltestelle zurücklaufen. Heute noch ohne Rollator - aber das haben die Arzttage so an sich.

Fine.